Tieck's Novellen. Raumer's Hohenstaufen. 695
ihren Glauben durch willkürliche Einfälle und unmögliche Erfindungen
oder gar durch den schlechthin unpoetischen Spuk des Tollhauses. Gleich-
wohl errangen diese Novellen, die uns heute so fremd anmuthen, einen
großen und berechtigten Erfolg; denn sie wiesen unserer erzählenden Dich-
tung ein neues Ziel, das der nationalen Empfindung zusagte. Der be-
hagliche, breit ausgesponnene Roman gelang den leidenschaftlichen deutschen
Naturen selten, die raschere Bewegung der Novelle war ihnen verständ-
licher, und bald fand Tieck auf seinem neugebahnten Wege zahlreiche be-
gabte Gefährten.
Zugleich begann der Realismus der Geschichtswissenschaft auf die
Dichtung einzuwirken. Die Masse der historischen Romane schwoll an,
und neben vielen verfehlten Versuchen erschien doch auch ein Werk von
gesunder Lebenskraft, der Lichtenstein des Schwaben Hauff, eine Geschichte
aus der schwäbischen Reformationszeit, nicht reich an Gedanken, aber an-
heimelnd durch gemüthliche Wärme und den seltenen Liebreiz der Erzäh-
lung. Noch stärker wurden die Dramatiker von der historischen Welt an-
gezogen, sogar Grillparzer, der sonst so gerne einsam seines Weges ging.
Die dumpfe Luft des alten Oesterreichs war freilich der historischen Dich-
tung nicht günstig. Bancbanus, „der treue Diener seines Herrn"“, ließ
deutsche Hörer kalt, weil ihnen die naturgetreu geschilderte unerschütter-
liche Bedientenhaftigkeit des k. k. Beamten wie eine tolle Erfindung vor-
kam, und als Grillparzer dann in seinem König Ottokar freiere Töne
anschlug, schritt die Wiener Censur ein, weil sie den Unwillen der Czechen
fürchtete. Immermann, Grabbe und viele andere junge Poeten versuchten
sich als historische Dramatiker, und der betriebsame Raupach in Berlin,
der immer genau wußte, woher der Wind im Publikum wehte, schickte
sich bereits an, die gesammte Geschichte der staufischen Zeiten in fünf-
füßige Jamben zu zerschneiden, die dann wieder kunstvoll zu fünfaktigen
Tragödien zusammengenäht wurden. —
Als Fundgrube diente der Mehrzahl dieser Dichter die Geschichte der
Hohenstaufen von Friedrich v. Raumer, der erste glückliche Versuch um-
fassender politischer Geschichtserzählung, der seit dem Wiederaufleben der
bistorisch-philologischen Forschung gewagt wurde (1823). Schon der mäch-
tige Stoff, das historische Ideal des Zeitalters der Romantik, gewann dem
Werke die Herzen der Leser. Raumer's Gesinnung war ganz modern,
obwohl er mit Tieck, Eichendorff und anderen romantischen Dichtern
freundschaftlich verkehrte. Er urtheilte mit dem weltmännischen Wohl-
wollen eines verständigen Beamten der Hardenbergischen Schule; weder
die Mystik des Christenthums, noch die aus Unbeständigkeit und Treue so
seltsam gemischte Empfindungsweise der mittelalterlichen Menschen war
ihm recht vertraut. Der frischen, klaren, lebendigen Darstellung fehlten
Macht und Tiefe, und den Streitfragen der historischen Kritik ging Raumer
meist behutsam vermittelnd aus dem Wege. Immer blieb dem Buche das