696 III. 9. Literarische Vorboten einer neuen Zeit.
große Verdienst des ersten Wurfs, die hohen Gestalten unserer alten
Kaiser traten den gebildeten Deutschen wieder menschlich näher, am deut—
lichsten wohl das Charakterbild Kaiser Friedrich's II. Nun das Eis ge—
brochen war, fanden auch andere Werke politischer Geschichtsdarstellung
freundliche Aufnahme, so Stenzel's Geschichte der ostfränkischen Kaiser und
Johannes Voigt's Geschichte des Ordenslandes Preußen.
Als ob er ahnte, daß der große Tag der deutschen historischen Kunst
herannahte, schrieb Wilhelm Humboldt um diese Zeit (1822) seine Ab—
handlung über die Aufgabe des Geschichtschreibers, eine geistvolle Schrift,
die in Form und Inhalt den Uebergang von der philosophischen zur
historischen Weltanschauung darstellte. Den geheimnißvollen Dualismus,
der in dem sittlichen Leben unseres staubgeborenen und gottverwandten
Geschlechts unverkennbar waltet, suchte er dadurch zu erklären, daß er
eine hinter den Erscheinungen der Geschichte stehende Ideenwelt annahm.
Geschichte war mithin Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in
der Wirklichkeit zu gewinnen. Dem Historiker fiel die zweifache Aufgabe
zu, das Geschehene thatsächlich zu ergründen und das Erforschte dergestalt
zu verbinden, daß die Nothwendigkeit der Ereignisse erwiesen und die Rath-
schlüsse der göttlichen Weltregierung erkannt würden. Es war eine groß-
artige Ansicht, die zugleich mit Zartheit das persönliche Leben, mit Freiheit
die allgemeinen Mächte der Geschichte zu verstehen suchte; sie sicherte der
Geschichtschreibung großen Stiles ihre gebührende Stelle auf der Grenze
zwischen Wissenschaft und Kunst. Die Frage, wie sich die Welt der Ideen
zu der bewußten Thatkraft der wollenden Menschen eigentlich verhalte
— diese entscheidende Frage blieb freilich unerörtert. Humboldt's Bruder
Alexander erhob daher den Einwand: diese Ideen kämen ihm vor wie
jene unerweisbaren Lebenskräfte, welche der Physiolog annehme sobald
er mit seinen Beobachtungen nicht mehr weiter könne. Wilhelm aber ließ
sich nicht beirren; er wußte, daß die Geisteswissenschaft nicht wie die Natur-
wissenschaft allein den Gesetzen der Logik folgen darf, daß sie ihre letzten
und höchsten Gedanken nur ahnen, nicht ganz erweisen kann.
Inzwischen traten schon die beiden Gelehrten auf die Bühne, welche
in der nächsten Zukunft die deutsche Geschichtschreibung beherrschen sollten,
Schlosser und Ranke. F. C. Schlosser zählt zu den erstaunlichsten Er-
scheinungen unserer Literaturgeschichte; denn selten geschieht es, daß ein
Mann, der innerlich einer ganz anderen Zeit angehört, dennoch auf die
Mitwelt mächtig einwirkt. Er war ein Sohn des achtzehnten Jahr-
hunderts, ganz und gar erfüllt von dem strengen Pflichtbegriffe Kant's. In
scharfem Gegensatze zu Rotteck, der immer nur den Bürgersleuten das
Wort von den Lippen nahm, betrachtete er die Parteikämpfe des Tages
mit unverhohlener Verachtung. Selbst die patriotische Erregung der Be-
freiungskriege berührte ihn wenig; war er doch im Jeverlande daheim,
draußen unter den Friesen, die sich kaum recht zu Deutschland rechneten.