698 III. 9. Literarische Vorboten einer neuen Zeit.
verdünnt und verflacht, längst in das Bürgerthum eingedrungen, und in
dem gedrückten politischen Leben dieser Tage fühlte sich Jeder im Herzen
erleichtert, wenn die Sünden der Mächtigen der Erde von einem rücksichts-
los ehrlichen Manne gründlich abgestraft wurden. Durch die Geschichte
des achtzehnten Jahrhunderts errang diese moralisirende Geschichtschreibung
ihren ersten großen Erfolg, aber erst im folgenden Jahrzehnt, als Schlosser
den ersten Entwurf dieses Buches breiter ausführte, wurde er eine an-
erkannte Macht im deutschen Bürgerthum.
Bescheiden und fest, einer großen Zukunft sicher, erklärte Leopold Ranke
schon in seiner Erstlingsschrift, den Geschichten der romanischen und ger-
manischen Völker (1825), daß er sich des Amtes, die Vergangenheit zu
richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, nicht
unterwinde. Er wolle „bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen"“. Ver-
traut mit der Philosophie Fichte's und Hegel's, beabsichtigte er durch dies
tieffinnige Wort keineswegs, dem Historiker die Darstellung des Ideen-
gehaltes der Geschichte zu verbieten, aber in der genauen Ergründung
des Thatbestandes sah er das Nächste, was der noch ganz verwahrlosten
neuen Geschichte noth that; und der Quellenkritik dieses Zeitraums brach
der junge Meister gleich selbst die Bahn, indem er in einer classischen
Untersuchung die Unglaubwürdigkeit der berühmten Historiker des Cin-
quecento darlegte, die Berichte, die Briefe, die Tagebücher der unmittelbar
Betheiligten als die allein probehaltigen Zeugnisse empfahl. In dem
Werke über die Fürsten und Völker Südeuropas, das großentheils aus
den unvergleichlichen Gesandtschaftsberichten der Venetianer geschöpft war,
trat der Charakter dieser neuen diplomatischen Geschichtschreibung bereits
schärfer hervor. Wesentlich politisch, betrachtete sie den Staat stets von
oben. Sie suchte die Beweggründe und Absichten der Handelnden, der
Herrschenden zu verstehen und gelangte also zu einer vornehmen Zurück-
haltung, welche die Thatsachen meist für sich selber reden ließ; durch die
vollständige Beherrschung des Stoffes gewann die Erzählung die ruhige
Schönheit des Kunstwerks. Wohl lag die Gefahr nahe, daß die Stimme
des Gewissens, die in Schlosser's Schriften nur zu oft und lärmend sprach,
in den Werken der diplomatischen Historiker ganz verstummte, daß der
breite Unterbau der Gesellschaft, die Masse des Volks mit ihrer Noth
und Sorge, mit ihrer Tapferkeit und ihren dunklen Instinkten nicht
genugsam beachtet würde, und auch die Kräfte des Gemüths, deren jede
lebenswahre Schilderung des Menschendaseins bedarf, die Liebe und der
Humor nicht ganz zu ihrem Rechte kämen. Aber der feste Grund war
gelegt, auf dem sich die deutsche Geschichtsforschung zur Höhe einer ge-
sicherten Fachwissenschaft erheben konnte, und die Zeit sollte noch kommen,
da die anfangs nur von kleinen Kreisen beachtete Schule Ranke's die
volksbeliebten Schlosser'schen Werke gänzlich aus dem Felde schlug.
Nach allen Seiten hin entfaltete sich frisch und kerngesund das