728 III. 10. Preußen und die orientalische Frage.
gewaltigen Zornreden wider die Revolution vergaß er doch nicht, daß die
Empörung gegen den türkischen Erbfeind dem heiligen Rußland Vortheil
bringen konnte; und wenn er vor allem Volke in Berlin seinem Schwieger—
vater mit ritterlicher Demuth die Hand küßte, so heuchelte er nicht schlecht—
hin — denn der welterfahrene alte König war vielleicht der einzige Mensch,
der dem Czaren ein Gefühl von Ehrfurcht einflößte —, aber er wußte
auch sehr genau, wie solche Schauspiele kindlicher Zärtlichkeit auf deutsche
Gemüther wirken mußten.
Durch die Bändigung des Petersburger Aufstandes hatte er sich
überall in der Welt den Ruf unbeugsamer Willenskraft erworben. Der
ungeheure Haß, der ihn späterhin, nach der polnischen Revolution, traf,
lastete jetzt noch nicht auf ihm; selbst die Liberalen erkannten die Thor-
heit der Dekabristenbewegung und verdachten dem Czaren seine Gegenwehr
nicht. Aber Jedermann fühlte, daß die unrussische Politik der letzten
Jahre Alexander's nunmehr endigen mußte. Das Volk murrte über die
Bevorzugung der Deutschen und der Polen. Der neue Czar that nur
das Nothwendige, als er die moskowitische Sitte wieder begünstigte, und
nicht minder nothwendig war sein entschlossenes Auftreten gegen den tür-
kischen Nachbarn. Er durfte bei den Kämpfen der griechischen Glaubens-
genossen nicht thatlos bleiben, schon weil sein von Parteien unterwühltes
Heer der Beschäftigung bedurfte.
Niemand durchschaute die veränderte Lage früher als Canning. Der
englische Staatsmann stand jetzt auf der Höhe seines Ruhmes. Die
Liberalen aller Länder jubelten auf bei seinem Trinkspruche: Freiheit,
politische und religiöse, in der ganzen Welt! — und bald kam die Zeit,
da er in drohender Rede an den Schlauch des Aeolus erinnerte, an die
Mächte der Revolution, welche das freie England nach Belieben ent-
fesseln könne. Gehoben durch die Gunst der Nation meinte er sich stark
genug, die alten Ueberlieferungen der orientalischen Politik seines Landes
über Bord zu werfen und eine Verständigung mit Rußland zu wagen.
Wenn es gelang, dem jungen Czaren durch einen freundschaftlichen Ver-
trag die Hände zu binden, dann würde das gräßliche Gemetzel der Aegypter
im Peloponnes beendigt und den Griechen eine bedingte Unabhängigkeit
errungen, aber auch der Bestand des unantastbaren Osmanenreichs ge-
sichert und die Erweiterung der russischen Macht im Orient verhindert.
Darum nahm Canning die geheimen Verhandlungen mit dem russischen
Gesandten, dem Fürsten Lieven, welche schon unter Czar Alexander be-
gonnen hatten, wieder auf und sendete dann den Herzog von Wellington
nach Petersburg, der als strenger Tory dem Selbstherrscher willkommen
sein mußte. Am 4. April 1826 unterzeichnete Wellington mit Nesselrode
ein geheimes Protokoll, wodurch sich die beiden Mächte verpflichteten, in
Griechenland, nach dem Vorbilde Serbiens und der Donaufürstenthümer,
einen halbsouveränen Schutz-Staat des Sultans zu errichten. Canning