Herzog Wilhelms Regentschaft. 107
ihn ließ sich die Beruhigung des Ländchens nicht erreichen, und auch die
trotzige Haltung der Braunschweiger entsprang keineswegs allein dem über-
spannten Selbstgefühle des revolutionären Philistertums: eine wider-
rufliche Vollmacht bot, bei Karls Charakter, in der Tat keine Gewähr
für dauernden Frieden. Darum sahen beide Höfe über den begangenen
Formfehler schweigend hinweg und bemühten sich, während der nächsten
Wochen wetteifernd, den Flüchtling zu freiwilligem Verzicht zu bewegen.
Der König von Preußen schrieb ihm selbst, noch nachdrücklicher Fürst
Wittgenstein.) König Wilhelm IV. aber unterhandelte, erst durch Wel-
lington und Aberdeen, nachher persönlich mit seinem Neffen. Er verfuhr
schonend und streng ehrenhaft; selbst Graf Münster, des Herzogs alter
Feind, bekundete eine unerwartete Mäßigung. Man ließ dem Herzog die
Wahl, ob er gänzlich abdanken, oder seinem Bruder mit unbeschränkter
und unwiderruflicher Vollmacht die lebenslängliche Statthalterschaft über-
tragen wolle. Auf jeden Fall — darüber waren die beiden Könige einig —
sollte Karls Nachkommen ihr Erbrecht vorbehalten bleiben.)
Endlich begann der Herzog einzulenken und rückte mit seinen Be-
dingungen heraus. Er war bereit, den Bruder zum Generalgouverneur
auf Lebenszeit zu ernennen, verlangte aber für sich, außer dem Hof-
staate und den Ehrenrechten eines Souveräns, eine jährliche Rente von
300 000 Talern, ohne Abzug, lediglich für seine persönlichen Ausgaben —
und dies von einem Ländchen, dessen gesamte Staatseinnahmen wenig
mehr als eine Million betrugen. Außerdem sollte der Landtag das Recht
erhalten, den Herzog jederzeit zur Selbstregierung zurückzurufen. Da nach
englischen Anstandsbegriffen solche kaufmännische Künste nicht anstößig sind,
so zeigten sich Wellington und Aberdeen geneigt, Karls Vorschläge im
wesentlichen anzunehmen; was kümmerte diese Torys die Finanznot
eines deutschen Kleinstaats? Münster aber fand die Geldsumme viel zu
hoch, den Vorbehalt einer Zurückberufung ganz unannehmbar.“) Noch
peinlicher war der Berliner Hof überrascht. Tief empört schrieb Bernstorff
nach Wien: daß Herzog Karl sich sträubt, ist nicht zu verwundern; „daß
er aber einen so hohen Preis in Gelde dafür fordert, einen Preis,
welchen das Land kaum erschwingen kann, gibt einen abermaligen Be-
weis von der Härte und dem grenzenlosen Egoismus seines Charakters.“ )
König Friedrich Wilhelm war indessen längst zu der Erkenntnis ge-
langt, daß die zaudernden englischen Welfen eines Spornes bedurften.
*) König Friedrich Wilhelm an Herzog Karl, 16. Oktober. Wittgenstein an Herzog
Karl, 20. Okt. 1830.
**) Wellington an Münster, 4. Okt. Münster an Herzog Wilhelm von Braun-
schweig, 5. Okt. König Wilhelm IV. an Herzog Wilhelm, 8. 13. Okt. 1830.
***) Bülows Berichte, 15.22. Okt. Esterhazys Bericht, London 19. Okt. Münfter
an Stralenheim, 2. Nov. König Wilhelm IV. an Herzog Wilhelm, 4. Nov. 1830.
0 Bernstorff an Maltzahn, 9. Nov. 1830.