Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

110 IV. 2. Die konstitutionelle Bewegung in Norddeutschland. 
nahm am 16. November die Vollmacht förmlich zurück und forderte den 
Bruder auf, sich zu einer Unterredung in Fulda einzufinden. Die Braun— 
schweiger aber wollten ihren Regenten nicht ziehen lassen; sie fürchteten 
im Ernst — so stark hatten sich die Gemüter erhitzt — Karl werde den 
Bruder vergiften. „Daß ich dergleichen Besorgnisse nicht hege, bedarf 
wohl weiter keiner Versicherung“ — schrieb Herzog Wilhelm an Wittgen- 
stein, indes wagte er auch nicht der Einladung, die ja doch keinen Er- 
folg verhieß, zu entsprechen.““) Wie fühlte er sich wieder so unsicher und 
verlegen. Die Zurücknahme der Vollmacht zog ihm den Rechtsboden 
unter den Füßen hinweg; seine Statthalterschaft war nunmehr nicht bloß 
der Form, sondern auch der Sache nach eine rechtswidrige Usurpation. 
Wieder wendete er sich nach Berlin um Hilfe und gestand seinem Wittgen- 
stein: Wenn ich nicht öffentlich erklären darf, daß die Könige von Preußen 
und Hannover mein Verbleiben wünschen, so „werde ich wohl nicht um- 
hin können, mich von hier zu entfernen“. Die preußische Antwort ver- 
stand sich von selbst. Unmöglich durfte man dem vertriebenen Welfen 
gestatten, durch einen launischen Einfall den mühsam hergestellten vor- 
läufigen Rechtszustand wieder über den Haufen zu werfen. Der junge 
Herzog wurde aufgefordert, auch nach dem Erlöschen der Vollmacht in 
seiner Stellung auszuharren.) 
Noch bevor die Erwiderung aus Berlin eintraf, hatten sich die Braun- 
schweiger selber geregt. Auf die Kunde von dem Herannahen des verab- 
scheuten kleinen Tyrannen geriet das Land wieder in fieberische Unruhe. 
Die Bürgerwehr gelobte in einer stürmischen Versammlung feierlich, nur 
dem Herzog Wilhelm zu gehorchen, und das Gleiche beschlossen — ein in 
Deutschland unerhörter Fall — auch die Offiziere des kleinen Heeres. 
Das war der Fluch der Trägheit des Deutschen Bundes. Fast ein Viertel- 
jahr lang hatte er das unglückliche Land sich selber überlassen, und nun 
waren alle Rechtsbegriffe schon dermaßen verwirrt, daß selbst der Fahnen- 
eid dieser durch Mut und Treue gleich berühmten Truppe nicht mehr 
standhielt. Magistrat und Stadtverordnete der Hauptstadt versicherten 
dem jungen Herzog in einer pathetischen Adresse: „Die Sündenschar wird 
ihr boshaftes Treiben so lange fortsetzen, bis die dauernde Regierung 
unseres neuen Landesherrn außer allem Zweifel steht.“ Und der wackere 
Bürgermeister Bode fügte in einem Begleitschreiben hinzu: „Sollten Rück- 
schritte dem alten, über alle Beschreibung drückenden und schaudervollen 
Zustande wieder näher führen, so will ich lieber nicht leben, als an der 
Spitze einer nach und nach entwürdigten oder zur desperaten Wut gereizten 
Bürgerschaft stehen.““““) Dem gefeierten Herzog war bei diesen Huldigungen 
*) H. Wilhelm an Wittgenstein, 21. Nov. 1830. 
**) H. Wilhelm an Wittgenstein, 22. Nov. Bernstorffs Bericht an den König, 
30. Nov., und Antwort an H. Wilhelm, 30. Nov. 1830. 
*"*) Adresse von Magistrat und Stadtverordneten Braunschweigs, 23. November. 
 
	        
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