Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Preußen treibt die Agnaten vorwärts. 115 
dern kraft seines eigenen Rechtes als nächster Erbe ohne weiteres die 
Krone. Die schwierige Frage des Erbfolgerechtes der Nachkommen wird 
für jetzt offen gelassen, da die herzoglichen Brüder beide noch unvermählt 
sind, und gegebenen Falles späterhin noch eine Entscheidung getroffen 
werden kann. 
So Preußens Rat. In einer ergänzenden Denkschrjft gestand 
Eichhorn nachher selber: diese Sätze „sind wirklich als ein Extrem zu 
betrachten, über welches ohne Verletzung des Legitimitätsprinzips nicht 
hinausgegangen werden könnte“.“) In Wahrheit enthielten Preußens 
Vorschläge schon einen offenbaren Bruch des legitimen Rechtes; denn sie 
verlangten, daß ein unverantwortlicher Souverän zur Strafe für seine 
Untaten abgesetzt würde. Dies ließ sich rechtlich um so weniger begrün— 
den, da Herzog Karl nicht einmal förmlich gehört wurde, und der Rat 
der Agnaten nur aus den regierenden Herren der beiden welfischen Linien 
bestand, von denen der eine, Herzog Wilhelm, unzweifelhaft ein Usur- 
pator wider Willen war. Aber nach allem, was geschehen, war der 
Rechtsbruch unvermeidlich, an die Wiederherstellung des Vertriebenen ließ 
sich gar nicht mehr denken, und entschloß man sich einmal anzuerkennen, 
daß Not kein Gebot kennt, so blieb es immerhin noch der leidlichste Aus- 
weg, wenn der jüngere Bruder kraft Geburtsrechts in die Stelle des 
Entthronten eintrat. Die Vertagung der Erbfolgefrage ergab sich von 
selbst aus der Verlegenheit, denn aus einem Rechtsbruche lassen sich 
Rechtsgrundsätze schlechterdings nicht ableiten. Man scheute sich die Rechts- 
verletzung weiter zu treiben, als es. die Notlage des Augenblicks ver- 
langte, und die Nachkommenschaft Herzog Karls ihrer Erbansprüche 
geradezu zu berauben; aber man wollte diese Rechte auch nicht aus- 
drücklich anerkennen, damit nicht Karl eine Ehe schlösse, welche die Ver- 
wirrung in dem Ländchen nur steigern konnte. Warum der Zukunft 
vorgreifen? War es nicht möglich, daß eine förmliche Entscheidung der 
Frage ganz überflüssig wurde? daß der ausschweifende Karl frühzeitig 
kinderlos starb und dann das Thronfolgerecht der Nachkommen Herzog 
Wilhelms unanfechtbar dastand? Solche Erwägungen lagen nahe genug. 
Schon während der Verhandlungen der letzten Monate hatten beide wel- 
fische Höfe, zuerst Braunschweig, dann Hannover, die Meinung geäußert, 
man handle vielleicht am klügsten, wenn man die „allerdings delikate“ 
Erbfolgefrage vorderhand unberührt lasse.“) 
Als nun die Vorschläge Preußens einliefen, ergriffen die Agnaten noch- 
mals mit Freuden die dargebotene Hand. Der Herzog von Cambridge 
  
*) Denkschristen des Auswärtigen Amtes: für die Agnaten 9. Januar, für den 
Wiener Hof 4. März 1831. 
**) Zuerst das braunschweigische Ministerium in seiner Denkschrift für Stralenheim 
vom 4. Dezember 1830. 
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