Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

124 IV. 2. Die konstitutionelle Bewegung in Norddeutschland. 
Da die Agnaten aus Ratlosigkeit die Frage der Thronfolge offen 
gelassen hatten, so ergab sich als notwendige, aber keineswegs beabsich— 
tigte Folge, daß keiner der beiden feindlichen Brüder sich vermählen konnte. 
Als stolzer Welfe wünschte Herzog Wilhelm eine Gemahlin aus großem 
Hause, doch alle seine geheimen Bemühungen blieben vergeblich, die vor— 
nehmeren Höfe trugen allesamt Bedenken, die Nachkommenschaft ihrer 
Töchter einer ungewissen Zukunft preiszugeben.“) Die Braunschweiger 
wußten wenig von diesen Mißerfolgen ihres Herzogs; sie beschworen ihn 
wieder und wieder, daß er den alten Heldenstamm nicht aussterben lasse, 
die Städte Braunschweig und Wolfenbüttel baten einmal sogar in einer 
feierlichen Adresse um eine Landesmutter.*) Alles umsonst. Nach und nach 
ward das Volk mißtrauisch. Seltsame Gerüchte liefen um, und der ver- 
triebene Landesherr nährte sie geflissentlich durch seine Brandschriften. Die 
böse Welt fragte nach ihrer Gewohnheit: wem bringt das Aussterben der 
braunschweigischen Linie Vorteil? — und da die Antwort nur lauten 
konnte: dem Hause Hannover — so bildete sich bald ein kunstvolles Lügen- 
gewebe, das unzerstörbar fest erschien, weil alle seine Fäden eng verknotet 
waren. Man glaubte allgemein, die hannöverschen Welfen hätten Erb- 
schleicherei getrieben und dem Herzog Wilhelm gegen das Versprechen der 
Ehelosigkeit zur Krone verholfen, Preußen aber sei Hannovers ergebener 
Schildknappe gewesen. Es war das genaue Gegenteil der Wahrheit. Die 
treibenden Kräfte bei dem Handel waren einerseits das braunschweigische 
Volk, das seinen bösen Herzog für alle Zukunft beseitigen, andererseits die 
Krone Preußen, die den anarchischen Zustand an ihrer Grenze rasch und 
endgültig ordnen wollte. Die Welfen wurden allein durch die Macht der 
Verhältnisse gedrängt: Herzog Wilhelm etwas schneller, weil ihm die Not 
auf den Nägeln brannte, König Wilhelm langsamer und ganz wider 
Willen. Von Anfang bis zum Ende zeigten die Hannoveraner eine 
schwerfällige, aber ehrenwerte Gewissenhaftigkeit; nur den Uneingeweihten 
erschienen sie fälschlich als die Führer, weil Preußen sie absichtlich am 
Bundestage stets vorangehen ließ. 
Zweiundzwanzig Jahre lang hat Herzog Karl dann noch im Auslande 
gelebt, eine Schande des deutschen Namens. Die gute Gesellschaft zog 
sich in London wie in Paris bald von ihm zurück; nur einzelne über- 
spannte Radikale, wie der ehrliche Thomas Duncombe, schenkten seinen 
demokratischen Kraftworten Glauben. Halb Geizhals, halb Verschwender, 
vermehrte er den geretteten, sehr ansehnlichen Teil seines Vermögens 
durch glückliches Börsenspiel und legte sich die schönste Juwelensammlung 
der Erde an; dann praßte er wieder mit einem Gesindel von Dirnen 
  
*) Diese auch durch andere Zeugnisse beglaubigte Tatsache wird als allen Höfen 
wohlbekannt und als abschreckendes Beispiel angeführt von Herzog Karlvon Mecklenburg 
in seiner Denkschrift über die Heirat des Herzogs von Orleans (1837). 
**) Canitzs Bericht, Hannover 28. April 1839.
	        
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