Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

S. Jordan. 135 
stitutionelle an,“ denn Schomburg und andere welterfahrene Abgeordnete 
hatten dem doktrinären Feuergeiste zuweilen Wasser in den Wein ge— 
schüttet. Vornehmlich mißfiel ihm der übel geratene „Schlußstein“ der 
Verfassung, die Vorschrift über die Ministeranklage: wie durfte man 
die Entscheidung solcher Klagen dem Oberappellationsgericht anvertrauen, 
das von der Regierung ernannt wird, und „in der Residenz allen Künsten 
und Gefahren der Hofkabale ausgesetzt ist“? Immerhin wagte er zu 
hoffen, aus solcher „Verpuppung“ werde sich noch der Schmetterling der 
Freiheit erheben, wenn man nur stets dem Geiste der Verfassung den Vorzug 
gäbe vor dem Buchstaben. Unter diesem Geiste verstand er aber kurzweg 
die neufranzösische Parlamentsherrschaft: „das konstitutionelle System kann 
nur da sich kräftig ausbilden, wo kein Ministerium sich halten kann, 
welches die Majorität der Deputiertenkammer gegen sich hat.“ Wieviel 
er auch selbst noch vermißte, das dankbare Volk begrüßte ihn, und mit 
Recht, als den Vater der Verfassung. Für Schomburg und den Küfer 
Masaniello genügten Ehrenbecher, die landesübliche Belohnung liberaler 
Überzeugungstreue. Jordan aber erhielt von der Stadt Marburg ein 
Haus geschenkt; als er nachher von dem ersten konstitutionellen Landtage 
heimkam, empfing man den schlichten, anspruchslosen Mann mit fürst- 
lichen Ehren, und der junge hessische Dichter Franz Dingelstedt sang: 
Stand ich nicht im Chor des Volkes, das mit blankgezognen Schwerten, 
Das mit Fahnen und Drommeten grüßte seinen Heimgekehrten? 
Überall im Lande ward der Verfassungseid willig geleistet; eine 
Rechtsverwahrung der Fuldaer Klerikalen zu Gunsten der römischen Kirche 
blieb unbeachtet. Nur einige Bauerschaften des Fuldaer Landes nahmen 
Anstoß an dem Art. 10, der von dem Kurfürsten sagte: seine Person ist 
heilig und unverletzlich; sie glaubten, mit dieser Person sei die Reichenbach 
gemeint, ließen sich jedoch bald eines Besseren belehren. Zahlreiche Flug- 
schriften verherrlichten „Kurhessens freudige Zukunft“ und die Verfassung, 
„dies tief durchdachte Zeugnis des fortschreitenden Menschengeistes“. Ein 
Verfassungsbüchlein für den Bürger und Bauer lobte vornehmlich das neu- 
gewonnene Recht der Auswanderungsfreiheit und schloß mit der tröstlichen 
Versicherung: „Das letzte Landesrecht ist, daß jeder Hesse, dem es hiernach 
im Lande nicht gefällt, hingehen kann, wohin er will, ohne daß er gehalten 
wird.“ In Kassel gründete der wackere Philolog Bernhardi eine Zeitschrift 
„Der Verfassungsfreund“, deren Artikel sich meist durch kühne Allgemein- 
heit und durch sorgfältiges Vermeiden aller praktischen Fragen auszeichneten. 
„Der Vorabend großer Ereignisse“ oder „Was haben die Kurhessen noch 
mehr zu tun?“ — so lauteten die Überschriften beliebter Aufsätze. Auch 
die liberale Presse der deutschen Nachbarlande fand des Lobes kein Ende; 
sie pflegte nunmehr, seit die spanische Cortesverfassung von 1812 endlich 
in Vergessenheit geriet, Kurhessen und Norwegen neben dem Musterlande 
Belgien als die Staaten zu bezeichnen, „welche dem Zeitgeiste die ihm
	        
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