Schele. Stüve. Dahlmann. 163
Freiheit legte Stüve allein Wert; die Dogmen des konstitutionellen Ver—
nunftrechts ließen die Mehrheit des Landtags kalt. Die Stände selber ge—
standen unbefangen, dast man die häufige Wiederkehr großer Staatsprozesse
nicht erleichtern dürfe; sie verlangten darum das Recht der Ministeranklage
nur für den Fall absichtlicher Verfassungsverletzung und behielten sich für
leichtere Streitigkeiten lediglich eine Beschwerde an den König vor.
So kam das Staatsgrundgesetz zustande, unzweifelhaft die be—
scheidenste unter den neuen norddeutschen Verfassungen; bei allen Män—
geln doch ein achtungswertes Werk erfahrener Einsicht und behutsamer
Mäßigung. Dahlmann meinte zufrieden, hier sei der Weg betreten, der
für Deutschland frommen könne. Eine Zeitlang gewann es den An-
schein, als sollte unter diesen besonnenen niederdeutschen Reformern eine
neue Schule des gemäßigten Liberalismus sich bilden, wie sie der Nation
gerade not tat, ehrlich konstitutionell und doch dem historischen Rechte
nicht feindlich gesinnt, eine Schule, die nach Steins Vorbild das Künf-
tige aus dem Vergangenen zu entwickeln suchte. Unterstützt von Rose,
Stüve, Dahlmann und dem wackeren Pädagogen Kohlrausch, ließ Steins
Vertrauter Pertz, der gelehrte Herausgeber der Monumenta Germa-
niae, die Hannoversche Zeitung erscheinen, die erste namhafte politische
Zeitschrift des kleinen Königreichs, ein streng nationales Blatt, das den
abstrakten Theorien des modischen Liberalismus ebenso nachdrücklich ent-
gegentrat wie seiner polnisch-französischen Schwärmerei und darum von
der süddeutschen Presse als ein Organ der pfäffischen Reaktion gebrand-
markt wurde. Sein Wahlspruch lautete: „Treue ist der Grundzug des
deutschen Charakters, und Treue ist Freiheit.“ Nach einem kurzen viel-
verheißenden Anlaufe verfiel die Zeitung leider bald der Ermattung,
welche das ganze Land heimsuchte; unter den Männern des praktischen
Lebens hatte sie nie viele Mitarbeiter gefunden, und die politisierenden
Gelehrten, die selten lange bei der Stange aushalten, zogen sich nach
und nach zurück.
Über der neuen Verfassung schwebte kein glücklicher Stern. Nachdem
die Vereinbarung mühsam gelungen war, blieb man noch ein halbes Jahr
hindurch in peinlicher Ungewißheit und erfuhr nur durch Gerüchte, daß
Schele und der österreichische Gesandte in London alles aufboten, um das
Schiff noch dicht vor dem Hafen stranden zu lassen. Am 26. Sept. 1833
unterzeichnete der König endlich das Staatsgrundgesetz, nachdem er etwa
vierzehn unwesentliche Paragraphen des vereinbarten Entwurfs einseitig
abaeändert hatte. Der neue Landtag beeilte sich zwar auf Stüves An-
trag die Anderungen nachträglich gutzuheißen; immer blieb es ein ver-
hängnisvoller Fehler, daß dieser Staat, der seit dem Kriege aus einem
zweifelhaften Rechtszustande in den andern taumelte, nun schon zum
dritten Male eine Verfassung erhielt, deren Gültigkeit sich mindestens mit
Scheingründen anfechten ließ.
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