Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

10 IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. 
die Macht der Doktrin. Die Selbstgefälligkeit des neuen Jahrhunderts 
rühmte sich gern, in diesen hellen Tagen sei die Parteibildung grund— 
sätzlich geworden und darum klarer, bewußter denn je zuvor; und doch 
blieb der Parteikampf jetzt wie zu allen Zeiten ein Kampf um die Macht, 
die moderne Sitte der Aufstellung theoretischer Programme erhöhte nur 
den Dünkel, die Unversöhnlichkeit der Fraktionen. Und selten hat eine 
hohle Doktrin so verderblich gewirkt wie jetzt in Frankreich die neue 
Lehre von dem allein wahren konstitutionellen Staate. 
In den Anfängen der Restauration hatten nur vereinzelte Stimmen, 
zumeist aus dem Lager der Ultras, dem Könige die verfassungsmäßige 
freie Ernennung der Minister zu bestreiten gewagt.“) Damals erklärte 
Royer-Collard, der verehrte Führer der Doktrinäre: das Königtum 
hört auf an dem Tage, wo die Kammer ihm die Minister aufdrängt. 
Aber bald wendeten die Liberalen ihre Blicke nach England und bildeten 
sich die Meinung, die Parlamentsherrschaft der englischen Aristokratie 
müsse in das demokratisierte Frankreich übertragen werden. Thiers, der 
klügste Kopf unter den Urhebern der Juli-Revolution faßte die neue Lehre 
zusammen in dem Schlagworte: der König herrscht nur, aber er regiert 
nicht. Nach dem Siege gestand er unumwunden: in dem Augenblicke, 
da das Ministerium Polignac gebildet wurde, erhob sich „die große Frage 
des Repräsentativsystems, die Frage, worin sein ganzes Wesen enthalten 
ist, die Frage, die über sein Dasein oder Nichtsein entscheidet; es war 
die Frage: ist der König von der Mehrheit der Kammer unabhängig 
oder nicht? kann er die Minister außerhalb dieser Mehrheit wählen?“ 
Und noch deutlicher fuhr er fort: „Was wollten wir vor dem Juli? 
Die konstitutionelle Monarchie mit einem Herrscherhause, das ihre Be- 
dingungen anerkennen und deshalb uns den Thron verdanken soll.“ 
Damit war der zweite doktrinäre Glaubenssatz der Zeit ausge- 
sprochen. Die Verehrung für das tote Datum liegt in dem schablonen- 
haften Charakter der neufranzösischen Bildung tief begründet. Wie die 
Liberalen längst glaubten, in dem wunderbaren Jahre 1789 sei ihre neue 
Freiheit urplötzlich geboren worden, und mitleidig auf jede andere Nation 
herabsahen, wenn sie nicht auch ein 89 in ihren Annalen aufweisen konnte, 
so berauschten sie sich nunmehr an der neuen Heilswahrheit: Englands 
Freiheit sei erst durch die zweite Revolution von 1688 gesichert worden, 
folglich müsse auch Frankreich das Zeitalter seiner Revolution durch ein 
anderes 88 abschließen. Die Vergleichung hinkte auf beiden Füßen, denn 
wo war in Frankreich ein Schreckensregiment, das den Untaten des Blut- 
richters Jeffreys glich? wo ein mächtiger parlamentarischer Adel, der 
das Erbe des vertriebenen Königshauses antreten konnte? Dem ober- 
flächlichen Doktrinarismus der Zeit genügten indes einige äußerliche Ahn- 
  
—. 
*) S. o. II. 120.
	        
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