Goethe und das neue Geschlecht. 411
umgab, bei weitem nicht mehr so fremd gegenüber wie einst in den Tagen
der Befreiungskriege und des christlichen Teutonentums. Damals konn—
ten ihn Fernstehende leicht für einen Reaktionär halten, der verdrossen
zu dem Weltbürgertum der guten alten Zeit zurückstrebte. Nunmehr
aber sprach er wieder mit Abscheu von der Aufklärung des „selbstklugen“
achtzehnten Jahrhunderts; er empfand von neuem, daß er selber einst die
Deutschen von Philisternetzen befreit, der Erkenntnis der zwecklosen Schön—
heit, des ewigen Werdens in Natur und Geschichte zuerst die Bahn ge—
brochen hatte. Was jetzt auf dem literarischen Markte sich wider Goethe
auflehnte, war doch nur in neuem Aufputz die alte Aufklärung, das alte
Naturrecht, die alte platte Nützlichkeitslehre, die alles Lebendige fragte, wo-
zu man es wohl gebrauchen könne. Wenn Menzel und Börne mit libe-
ralen Kraftworten gegen ihn polterten, dann mußte der alte Herr unwill-
kürlich jener fernen Tage gedenken, da Nicolai auf dem Grabe des jungen
Werther seine Andacht verrichtete. Auch seinem jugendlichen Freunde Car-
lyle entging diese Wahlverwandtschaft nicht; der meinte: „Eure deutschen
Philister Adelung und Nicolai sind mir sehr merkwürdig; hier nennen wir
sie Utilitarianer, sie sind meist Politiker, radikal oder republikanisch.“
Die dürren, fertigen Formeln der modischen Freiheitslehren bestärkten
Goethe nur in der Einsicht, daß seine eigene Weltanschauung die freiere war.
Er fühlte sich wieder als den Lichtbringer einer neuen Zeit und nahm mit
Befriedigung wahr, wie unverkennbar alle schöpferischen Werke der bil-
denden Kunst und der Wissenschaft schon den Stempel seines Geistes
trugen. Er wußte, dies große Jahrhundert, das er selbst einst mit her-
aufgeführt, hatte sein letztes Wort noch nicht gesprochen; und obwohl er
schwerlich wünschen mochte, diese Zukunft noch zu erleben, so sah er doch
ahnungsvoll voraus, wie bald die kleinen Händel der Gegenwart veralten,
eine reichere Zeit den Gesichtskreis der Menschheit unermeßlich erweitern,
ihrer Gesittung ganz neue Aufgaben stellen würde. Schon in Meisters
Wanderjahren forderte er eine hochgesteigerte Staatstätigkeit, wie sie erst
in der Gegenwart sich zu entfalten anfängt; er entwickelte den Plan einer
ganz vom Staate geleiteten Volkserziehung, ein platonisches Ideal, das
den Privatmenschen des achtzehnten Jahrhunderts ebenso fremd war wie
dem staatsfeindlichen Radikalismus der dreißiger Jahre; und in den
schwachen Anfängen der deutschen Auswanderung erkannte er schon die
Vorboten jener expansiven Zivilisation, welche in der zweiten Hälfte des
neuen Jahrhunderts ihren Siegeszug um die Erde halten sollte:
Daß wir uns auf ihr zerstreuen,
Darum ist die Welt so groß!
In seinem letzten Lebensjahre, bei der Eröffnung des weimarischen Lese-
museums, sprach er offen aus, wie die Welt sich zu verwandeln beginne,
wie „die gesellige Bildung universell werde“, wie alle gebildeten Kreise, die
sich sonst nur berührten, jetzt sich vereinigten, und an jeden die Not-