Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Zweiter Teil des Faust. 413 
Greisenalters zurückgreifen zu einem Werke, das der flammenden Be— 
geisterung des Jünglings entsprungen war; „ich mußte“, so gestand er an 
Wilhelm Humboldt, „dasjenige durch Vorsatz und Charakter erreichen, was 
eigentlich der freiwilligen tätigen Natur allein zukommen sollte.“ Darum 
fehlte dem zweiten Teile des Faust jener Zauber des unmittelbaren per— 
sönlichen Bekenntnisses, der alle früheren Werke Goethes wie zarter Sonnen- 
duft umschwebte. Aus allen seinen Helden, aus Weislingen, Werther, 
Egmont, Tasso, Meister sprach das Herz des Dichters selber, am bered- 
testen doch aus dem Faust des ersten Teiles; was er nur je genossen, 
gedacht, gelitten, hatte er in dieser Gestalt vereinigt, und mit der ganzen 
Macht des selbsterlebten Leides erklang aus den Schlußszenen die Reue 
um die verratene Friderike. Der zweite Teil des Gedichts hingegen war 
streng objektiv gehalten; die Charaktere des Faust und des Mephistopheles 
traten ganz zurück, der Schwerpunkt des Dramas lag nicht mehr in der 
inneren Entwicklung des Helden, sondern in dem bunten Wechsel der 
Weltverhältnisse, die er durchschritt. 
Daraus ergab sich aber ein Mißverhältnis von Form und Inhalt. 
Schon Schiller hat dem Freunde vorhergesagt, wie schwer es halten 
werde, bei der Behandlung eines so ganz phantastischen und doch tief 
ernsten Stoffes „zwischen Spaß und Ernst glücklich durchzukommen“. Im 
ersten Teile war Goethe dieser Schwierigkeit noch völlig Herr geworden, 
mit jener spielenden Leichtigkeit, welche das vollendete Kunstwerk wie ein 
Gebilde der Natur erscheinen läßt. Das Schicksal des Helden fesselte die 
Leser so unwiderstehlich, daß sie die grellen Kontraste von satanischem 
Humor und tragischer Erhabenheit nicht als Störung empfanden; die 
kurzen gereimten Verse schmiegten sich in jeden Wechsel der Stimmung 
fast noch williger, als es der dramatische Jambus vermag; die glücklich 
idealisierte Sprache unseres sinnlich derben und gedankenschweren sech- 
zehnten Jahrhunderts mußte ein Geschlecht, das sich den Zeiten Luthers 
und Dürers verwandt fühlte, im tiefsten Herzen anheimeln. Dem zweiten 
Teile fehlte diese Einheit des Tones, die auch das Wunderbare glaub- 
haft machte; er erschien zu ernst für ein Märchenspiel, zu spukhaft für 
ein Drama. Im engen Anschluß an das alte Volksbuch vom Doktor Faust 
führte der Dichter seinen Helden durch eine Welt phantastischer Abenteuer, 
aber in allen seinen Traumgestalten lag ein tiefer Sinn verborgen, und 
unmöglich vermochte der Leser, wenn er der geheimnisvollen Bedeutung 
dieser Symbole nachgrübelte, sich noch die unschuldige Leichtgläubigkeit zu 
bewahren, welche das Wunder verlangt. Trotz aller ihrer glänzenden 
theatralischen Effekte blieb die gedankenreiche, mit Anspielungen und Be- 
ziehungen jederart überladene Dichtung doch viel zu schwer, um auf der 
Bühne wie ein prächtiges Zauberstück die Schaulust der Menge zu be- 
schäftigen. Fragmentarisch geschaffen konnte das Werk auch nur fragmen- 
tarisch genossen werden; nur wenn man sich zuerst liebevoll in die Fülle
	        
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