Rauch und seine Schüler. 461
schen Geschichte, daß alle die kleinen Bäche der Stammesgeschichten nach
und nach, wie durch eine geheimnisvolle Naturgewalt getrieben, zu einem
Strome zusammenfließen, bis schließlich jeder Teil der Nation an der
Größe des Vaterlandes seinen Anteil gewinnt. So gewiß der Süden an
dichterischer Gestaltungskraft den Norden überbot, ebenso gewiß waren die-
Nordgermanen im Verständnis wie in der Kunst der Plastik den Ober-
ländern überlegen. Die Niederdeutschen Winckelmann und Carstens,
Schinkel und Rauch erweckten uns zuerst den Sinn für die Formenschön-
heiten der Antike; neben ihnen der stammverwandte Däne Thorwaldsen
und der Holsteiner Zoega, der Archäolog. In Berlin fühlte sich Rauch
nirgends glücklicher als bei Wilhelm Humboldt, der ihm noch von Rom
her ein treuer Gönner war, und bei Schinkel, denn beide glaubten wie
er selbst an die Wahlverwandtschaft des hellenischen und des germanischen
Genius. Es war sein Stolz, daß Preußen mehr als irgendein anderer
Staat für das Studium der Antike tat; die neuen Gipsmuseen an den
Universitäten Bonn, Königsberg, Breslau förderte er eifrig, auch ein
großes Lager von Marmorblöcken ließ er in Berlin zusammenbringen.
Mit den Jahren wuchs seine Freude an den klassischen Formen. Darum
empfand er es fast wie eine Erlösung, als ihm König Ludwig den Auftrag
gab, die Regensburger Walhalla mit sechs kolossalen Viktorien zu schmücken.
Nun konnte er doch endlich „die ewigen Pantalons“ der preußischen Feld-
herrnstatuen in den Winkel werfen und an „dem edlen Nackten“ sein Auge
weiden. Diese herrlichen Frauengestalten blieben sein Lebensglück für viele
Jahre. Daneben fand er noch Zeit für das ganz realistisch gedachte Nürn-
berger Dürer-Denkmal; und den Bibelspruch „Lasset die Kindlein zu mir
kommen“ verkörperte er, rührend einfach, in dem Standbilde des frommen
Francke zu Halle. Auch die Nachklänge der Romantik berührten ihn einmal
leise, als er die liebliche Statuette der auf dem Hirsche reitenden Jungfrau
von Tangermünde schuf. Langsam gereift, gelangte er erst, als er den Sech-
zigern nahe war, zur Vollkraft seines Schaffens. Mit peinlicher Sorg-
falt, als hätte er noch gar nichts geleistet, bereitete er seine Werke vor.
Auf der Reise bemerkte er jeden wohlgeformten Baum, jeden anmutigen
Hügel, nur wenn die Dunkelheit hereinbrach, fühlte er sich unglücklich;
seiner Tochter in Halle mauerte er bei jedem Besuche Reliefs in die Wände
ihres Vorsaals, ein plastisches Stammbuch, das sie an des Vaters Leben
und Denken erinnern sollte. Die Kunst war ihm alles, und ganz wie
ein König fühlte er sich in seinem Reiche; alle Leute sahen ihm nach, wenn
er zur Winterzeit, in seinen hellen faltenreichen Mantel gehüllt, majestätisch
die Linden hinunterschritt. Unter seiner strengen Leitung wurde die Berliner
Bildhauerschule auf ein Menschenalter hinaus die erste der Welt. Viele
tüchtige Künstler, fast durchweg Nord= und Mitteldeutsche, gingen aus ihr
hervor: so Drake aus dem Waldecker „Genieländchen“, das auch das
Geburtsland von Rauch selbst, von Kaulbach und Bunsen war, so Kiß,