Wichern und das Rauhe Haus. 497
für verwahrloste Kinder (1833); aus diesem unscheinbaren Keime entstand
dann, wunderbar schnell aufblühend, ein freier protestantischer Orden, der
für Erziehung und Armenpflege, für Gefängnisse und Hospitäler Großes
leistete. Wichern wollte keiner theologischen Partei angehören; er bewahrte
seinem Lehrer Schleiermacher allezeit treue Verehrung und verwarf jede
Verfolgung der Rationalisten. Er war aufgewachsen in der naiven, volks—
tümlichen Frömmigkeit des hamburgischen Kleinbürgertums, er hatte als—
dann in der Musikerin Luise Reichardt und in der unermüdlich wohltätigen
Amalie Sieveking zwei Frauen von apostolischer Sinneseinfalt kennen ge—
lernt. Ein durchaus praktischer Geist, dachte er der Welt zu beweisen, daß die
lutherische Kirche, die bisher in allem Handeln hinter der Werkheiligkeit der
römischen und der Tatkraft der calvinischen Kirche weit zurückgeblieben
war, auch für die Armen im Geist zu sorgen vermöge; und es gelang ihm.
Alles wirksame Leben der Kirche ging fortan auf in der Tätigkeit
der strengen Schriftgläubigen. Sie allein predigten vor gefüllten Gottes—
häusern, während den Reden der spekulativen Theologen niemand zuhören
wollte; sie allein labten die Verschmachtenden und trösteten die Elenden,
während mehrere der Genossen der Tübinger Schule, nach Straußens
Vorgang, bald die Theologie aufgaben, weil ihnen an der Kirche wenig
lag. Und so gewiß die Religion nicht in der Gelehrsamkeit wurzelt, son—
dern in der Empfindung, in der lebendigen Kraft der Liebe, ebenso gewiß
war diese wissenschaftlich sehr mangelhafte Rechtgläubigkeit als kirchliche
Macht den gelehrten theologischen Kritikern weit überlegen.
Die Kluft zwischen beiden Parteien erweiterte sich von Jahr zu Jahr,
Achtung und Schonung gingen hüben und drüben bald verloren. Viele
Orthodoxe verleugneten das evangelische Recht der freien Forschung so
gänzlich, daß sie jede voraussetzungslose historische Kritik in der Theologie
kurzab für heidnisch hielten. Und andererseits, welch ein Zerrbild des
schwäbischen Pietismus entwarf doch der Tübinger Asthetiker Vischer in
seinen geistreichen Aufsätzen über Strauß und die Württemberger; in diesem
Bilde war kaum noch ein menschlicher Zug. Die liberalen Zeitungen ge-
brauchten den Namen der „Frommen“ nur noch ironisch, als ob Fröm-
migkeit eine Schande wäre; sie verlästerten das Rauhe Haus und alle die
anderen fröhlich aufblühenden Werke der christlichen Liebe als Anstalten
von Heuchlern für Heuchler. Der Kampf zwischen den Wissenden und
den Glaubenden war an Mißverständnissen und Verdrehungen ebenso
reich wie der gleich unfruchtbare Streit zwischen dem Vernunftrecht und
dem historischen Recht; er lähmte den deutschen Protestantismus eben in
dem Augenblicke, da das Papsttum wieder zum Angriff vorschritt; er ver-
schärfte auch die politischen Gegensätze also, daß schon nach wenigen Jahren
die Aussicht auf Versöhnung schwand, und ein gewaltsamer Umschwung
unvermeidlich wurde. —
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 32