Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

54 IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. 
ihr, durch einen notwendigen Rückschlag, eine ganz ebenso doktrinäre 
radikale Lehre entgegen, welche die Gemeinschaft des Staatensystems zu 
zersprengen drohte. In Paris ward dies neue Evangelium der Völker— 
freiheit dahin ausgelegt, daß Frankreich befugt sei, jede Einmischung der 
Großmächte in die inneren Streitigkeiten anderer Länder mit den Waffen 
abzuweisen. Hatten die Ostmächte einst in Troppau sich angemaßt, jede 
Revolution in der Welt zu unterdrücken, so erhob jetzt das Julikönig- 
tum den noch weit gefährlicheren Anspruch, jeden Aufruhr zu unter- 
stützen. Es war der alte Grundsatz der revolutionären Propaganda: 
Krieg den Palästen, Friede den Hütten; nur erschien er jetzt nicht mehr 
in seiner nackten Roheit, sondern bürgerlich ehrbar, umkleidet mit schönen 
Worten vom Selbstbestimmungsrechte aller freien Völker. Lord Palmerston 
säumte nicht, sich die Lehre der Nichteinmischung zu nutze zu machen; 
kaum am Ruder, verkündigte er sie sofort als sein Glaubensbekenntnis 
dem russischen Hofe. Er dachte zu klug, Ludwig Philipp zu furchtsam, 
um sich im Ernst durch eine doktrinäre Formel bestimmen zu lassen; jedoch 
die Politik der Orleans bedurfte, da sie nur aus der Hand in den Mund 
lebte, des Aushängeschildes einer großen Idee, das die nationale Eitelkeit 
befriedigte, und der Brite hieß unbedenklich alles willkommen, was den 
Unfrieden auf dem Festlande nährte. In Wahrheit sagte der neue Grund- 
satz nur, daß die Westmächte sich vorbehielten, nach den Umständen zu 
handeln und gegebenen Falles auch die revolutionären Leidenschaften für 
ihr Interesse zu verwerten. Talleyrand traf den Nagel auf den Kopf, 
als er einer wißbegierigen englischen Dame mit seinem faunischen Lächeln 
erwiderte: „Nicht-Intervention ist ein geheimnisvolles diplomatisches 
Wort, es bedeutet ungefähr dasselbe wie Intervention.“ 
Den Ostmächten mußte diese neue Völkerrechtslehre als ein unge- 
heuerlicher Frevel erscheinen; denn sie schlug allen Anschauungen des 
vergangenen Jahrzehnts ins Gesicht und drohte die so lange behauptete 
vormundschaftliche Gewalt der großen Mächte, das ganze alte System 
der europäischen Pentarchie zu vernichten. Metternich sagte entrüstet: 
„Die Räuber weisen die Polizei zurück, die Brandstifter verwahren sich 
gegen die Feuerwehr! Niemals werden wir einen Anspruch anerkennen, der 
so jede Ordnung der Gesellschaft zerstört.“ Nüchterner blieb Bernstorff; 
er erteilte an Bülow die Weisung, den doktrinären Streit auf der Lon- 
doner Konferenz nicht ohne Not anzuregen. Aber auch er fand, „in 
dem neu erfundenen Systeme der Nichteinmischung sei der Grundsatz 
der anmaßlichsten, übermütigsten und unzulässigsten Einmischung aus- 
gesprochen“; und in seinem Auftrage schrieb Ancillon nach Wien: „Gewiß, 
durch den Grundsatz der Nichteinmischung und durch den Anspruch, den 
Mächten bei Strafe des Krieges jede Truppenbewegung außerhalb ihrer 
Grenzen zu untersagen, ginge die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jeder 
Regierung verloren.“ Zar Nikolaus dagegen brauste in wildem Zorne
	        
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