Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

644 IV. 9. Der welfische Staatsstreich. 
König von England und die Bundespolitik der Hofburg unterstützte, dann 
mußte die britische Staatskunst vor den Augen der Welt noch treuloser 
erscheinen, als sie wirklich war. Gesättigt von den Erfolgen des napo— 
leonischen Zeitalters, hatte sich der Ehrgeiz der Nation seit einigen Jahren 
fast ausschließlich den überseeischen Interessen, dem Oriente und den Ko— 
lonien, zugewendet. Die öffentliche Meinung verstand den Grundsatz der 
Nicht-Einmischung, der von Palmerston so mannigfach ausgelegt wurde, 
in buchstäblichem Sinne; sie wollte von den festländischen Wirren wenig 
hören, sie verlangte, daß England wieder ein Inselreich würde, und schon 
darum hieß sie die Trennung von Hannover willkommen. 
Mit der Thronbesteigung der Königin Viktoria errang die Politik der 
Reform für lange Zeit einen vollständigen Sieg. Die unerfahrene junge 
Fürstin sah sich außerstande, die schattenhafte monarchische Gewalt durch 
die Kraft eines selbständigen Willens neu zu beleben, sie konnte sich nur 
von dem Strome der vorherrschenden nationalen Gesinnung treiben und 
tragen lassen. König Wilhelm war den liberalen Ideen halb widerstrebend 
gefolgt, Viktoria gehörte ihnen schon durch die Geburt an, da ihr väter— 
liches Haus mit den Hochtorys stets in Feindschaft gelebt hatte. Sie 
überließ sich willig der Führung des Hauptes der Whigpartei, Lord 
Melbourne, und wurde zugleich von ihrem Oheim König Leopold mit 
politischen Ratschlägen unterstützt. Der kluge Koburger arbeitete bereits 
seit Jahresfrist an einem neuen Heiratsplane, der seinem Hause die 
dritte Königskrone einbringen sollte; er dachte seinem Neffen Albert die 
Stellung des englischen Prinz-Gemahls, die er einst für sich selber erhofft 
hatte, zu verschaffen. Um sich auf sein hohes Amt vorzubereiten, mußte 
der junge Prinz ein Jahr in Brüssel verleben, denn in Berlin, so meinte 
Stockmar, könne man nichts lernen, Preußens Haltung gegen Deutschland 
sei „weder politisch noch ehrlich“. Durch die koburgische Verwandtschaft 
wurde die Königin auch dem Tuilerienhofe näher geführt; das gelockerte 
Bündnis der Westmächte schien sich wieder zu befestigen, mit donnernden 
Hochrufen empfing das Londoner Volk bei der Krönung den französischen 
Botschafter Marschall Soult, der sich in Spanien so oft mit den Briten 
gemessen hatte. Die Reformbill hatte den Umbau des alten aristokra— 
tischen Staatswesens nicht vollendet, sondern erst begonnen; eine Zeit 
großer sozialer Neugestaltungen nahte unverkennbar heran. Das ahnte 
jedermann, als die Königin in den ersten Tagen ihrer Regierung den 
reichen, menschenfreundlichen Moses Montefiore als Sheriff von London 
in den Ritterstand erhob — den ersten Juden, dem solche Ehre widerfuhr. 
Während also in England unter einem willenlosen Königtum die 
öffentliche Meinung ihre unbeschränkte Herrschaft antrat, erhoffte das han— 
növerische Volk von der Gnade des einheimischen Landesherrn ein unbe— 
stimmtes Glück. Unablässig arbeiteten die schöpferischen Kräfte der neuen 
deutschen Geschichte an der Zerstörung der seit zwei Jahrhunderten ein—
	        
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