Die belgische Verfassung. 81
fanden nirgends eifrigere Leser als in den Reihen des Brüsseler Kon—
gresses; genau nach den Weisungen dieses neufranzösischen kirchlichen Radi-
kalismus wurde der Kirche in Belgien eine Macht eingeräumt, wie sie
ihr noch nie ein europäischer Staat zugestanden hatte. Nothomb und
seine liberalen Freunde wähnten, damit nur dem gerühmten Vorbilde des
amerikanischen voluntar system zu folgen. In Wahrheit begnügte sich
die Kirche in Belgien keineswegs wie in Nordamerika mit der bescheidenen
Stellung eines Privatvereins; sie blieb vielmehr im Besitze fast aller der
Ehren und Vorrechte, welche sie den spanischen Königen verdankte, und
ließ sich vom Staate die Gehalte ihrer Priester bezahlen. Der Staat
aber verzichtete auf jedes Recht der Kirchenhoheit, selbst auf die Mitwirkung
bei Bischofswahlen. Als zwei gleichberechtigte Souveräne, in ungelöstem
Dualismus, standen weltliche und geistliche Gewalt nebeneinander; und
da ein völlig religionsloser Staat in Europa sich nicht zu halten vermag,
so begann der Klerus alsbald in das politische Gebiet überzugreifen. Ge-
deckt durch das modische Schlagwort der Unterrichtsfreiheit bemächtigte er
sich fast des gesamten Volksschulwesens, und mit solchem Erfolge, daß
in diesem Lande uralter Kultur die Kunstfertigkeit des Lesens und Schrei-
bens von Jahr zu Jahr seltener wurde. Die schwache Staatsgewalt
störte ihn wenig; ein evangelischer König mußte, wie der kluge Nuntius
Capaccini sogleich voraussagte, inmitten eines rein katholischen Volkes jeden
Streit mit der Kurie ängstlich vermeiden. Der belgische Staat glich einem
jener spanischen Dome, wo die Klerisei, durch die hohe Wand der Silleria
von den Laien abgetrennt, das Mittelschiff samt dem hohen Chore allein
besetzt hält, die Gemeinde nur aus den Seitenschiffen einen Blick nach
dem fernen Altare werfen darf.
Sobald die Folgen der neuen Kirchenfreiheit offenbar wurden, begann
die Union, welche den belgischen Staat geschaffen hatte, sich aufzulösen.
Klerikale und Liberale traten in zwei feindliche Lager auseinander, beide
Parteien fast gleich stark, die eine mächtig durch das gläubige Landvolk
und eine Unzahl kirchlicher Vereine, die andere vorherrschend in den
Städten und unterstützt durch die Freimaurerei, die hier noch weit mehr
als in anderen katholischen Ländern eine politische Färbung annahm.
Das ewige Auf und Ab dieser beiden Parteien, der Streit zwischen der
Loge und dem Beichtstuhl füllte fortan die Geschichte Belgiens aus. Un-
kirchlich, einseitig politisch wie die Bildung der Zeit war, erregte dieser
krankhafte, unversöhnliche Parteikampf bei den Nachbarvölkern kein Be-
fremden. Man hielt den Gegensatz für harmlos, weil die Belgier alle-
samt treu zu der Verfassung standen, und bemerkte nicht, daß die beiden
Parteien in ihrer sittlichen Weltanschauung so weit voneinander abwichen
wie das neunzehnte vom dreizehnten Jahrhundert. Dies Land der
Priestermacht wurde bald überall als der Musterstaat konstitutioneller
Freiheit gepriesen, da sein Grundgesetz alle Kernsätze des Vernunftrechts
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 6