Full text: Auswahl für das Feld.

Wer diesen Stoff dramatisch gestaltet, muß verzichten auf die 
konzentrierte Schönheit des Einzeldramas, er ist gezwungen zur zyk— 
lischen Behandlung. Hebbel griff zur Dreiteilung; er läßt auf ein 
kurzes Vorspiel „Der hörnerne Siegfried“ zwei Trauerspiele „Sieg- 
frieds Tod“ und „Kriemhilds Rache“ folgen. Diese Einteilung 
ist ebendeshalb ein großes künstlerisches Verdienst, weil der Laie 
meinen wird, sie verstehe sich von selbst. Sie bietet dem Dichter 
den Vorteil, daß er, ohne je in undramatische Breite zu verfallen, 
den reichen tragischen Gehalt seiner Fabel wirklich erschöpfen kann. 
Es gibt einige Stoffe von so unergründlicher tragischer Tiefe, daß 
sie unserer Seele bei jeder neuen Betrachtung immer neue und 
immer ergreifendere Situationen enthüllen. Wer hat das Bild von 
Paul Delaroche „Maria in ihrem Hause in der Nacht nach der 
Kreuzabnahme“ gesehen, ohne im ersten Augenblick zu erstaunen 
über die Neuheit der Erfindung und im zweiten ihre Notwendig- 
keit freudig anzuerkennen? Und wenn die Bauern vom Ober- 
Ammergau ihr Passionsspiel aufführen, was ist es, das diese Tau- 
sende während langer Stunden in atemloser andachtsvoller Stille 
fesselt, den blasierten Großstädter so gut wie die schwähische Bäuerin, 
die meilenweit gewallfahrt zur der heiligen Handlung? Es ist nicht 
bloß die einzige Erscheinung, daß hier die künstlerische Kraft, die 
in den Tiefen unseres Volkes schlummert, frei und freudig aus dem 
Verborgenen hervortritt; es ist nicht bloß die erhabene Weihe, welche 
der Glaube von Millionen über den grandiosen Mythus von der 
Kreuzigung Christi ausgegossen hat. Noch ein anderer, rein ästhe- 
tischer Grund gibt den anspruchslosen Zeilen des alten Dorf- 
schulmeisters eine so mächtig erschütternde Kraft. Jener eine Tag 
des Todes Christi ist so überschwenglich reich an tragischen Mo- 
menten, daß der Nachdichter nicht nötig hat, zu jenen Verkürzungen 
zu greifen, welche das Drama insgemein verlangt. Stunde für 
Stunde vielmehr des schmerzensreichen Tages geht in jenem Pas- 
sionsspiele an uns vorüber. Also hat der Zuschauer den zwei- 
fachen Genuß der tragischen Erschütterung und zugleich der vollen 
ungetrübten Naturwahrheit; denn auch jener letzte Schein des Ab- 
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