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oder zu gewärtigen hat, später mit ihnen über die völkerrechtlichen Ver—
pflichtungen des Deutschen Reiches verhandeln zu müssen, muß sie statt
Friedensverhandlungen Übergabe verlangen.«
Es hat bisher nicht unzweideutig festgestellt werden können, ob der Präsident
mit diesen Wendungen nur das System und die verfassungsrechtlichen Bestimmungen
treffen will, oder ob er bestimmte Persönlichkeiten im Auge hat. Versuche zur Klar—
stellung sind gemacht worden und noch im Gange, haben aber ein endgültiges Ergebnis
bisher noch nicht gehabt. Das neutrale Ausland faßt Wilsons Absichten überwiegend
dahin auf, daß er tatsächlich die Thronentsagung wünscht. Diese Ansicht gründet sich
auf die Auslegung der Wilsonschen Kundgebungen, auf Eindrücke aus Unterredungen
mit den Vertretern Amerikas und der Entente, insonderheit auf folgende Erwägungen:
Wilson selbst wünscht den Rechtsfrieden auf der Basis seiner Programmpunkte.
Die Entente sträubt sich gegen die Annahme dieses Programms. Sie wünscht den
Friedensschluß auf Grund ihrer eigenen, sehr viel härteren Bedingungen. Ebenso
fordert in Amerika die republikanische Partei unter Führung Roosevelts die unbedingte
Unterwerfung Deutschlands. Von diesen Strömungen ist der Politiker Wilson um so
abhängiger, als am 5. November die Wahlen zum amerikanischen Repräsentantenhause
bevorstehen, in dem die demokratische Partei, also Wilsons Partei, wenige Stimmen
Mehrheit besitzt. Gehen diese Stimmen verloren, so wird dem Präsidenten die Durch-
führung seines Friedensprogramms erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Denn
trotz aller Machtbefugnisse ist der amerikanische Präsident letzten Endes doch von der
Stimmung der Wähler abhängig. Wenn also auch Wilson persönlich die Thron-
entsagung als eine Forderung ansieht, die für ihn erst in zweiter Linic steht, so bedarf
er doch dieses Symbols, um der Entente und der amerikanischen öffentlichen Meinung
durch einen augenfälligen Erfolg zu beweisen, daß sein Kriegsziel, die Demokratisierung
der Welt durch Beseitigung der deutschen Militärautokratie, erreicht ist. Verfassungs.
änderungen genügen diesem Iwecke nicht, da die amerikanischen Massen die deutsche Ver
fassung und damit auch ihre Anderungen nicht versteben. Der Kaiser hingegen ist in der
amerikanischen öffentlichen Meinung, wie die Lektüre der Jeitungen und der illustrierten
Blätter zeigt, die Personifikation von Autokratie und Militarismus. Die Thron
entsagung würde daher als ein nicht wegzulengnender Erfolg der Wilsonschen Politik
seine Stellung stärken und ihm voraussichtlich trotz aller Widerstände die Durchführung
seines Programms ermöglichen. Ohne diese Stärkung seiner Stellung wird behauptet,
daß Wilson dem Drucke nachgeben muß und Deutschland verschärfte Friedensbedingungen
im Sinne der Entente auferlegt werden.
gez. Solf.
Nr. 97.
Delegramm.
München, den 2. November 1918.
Der Kais. Gesandte an Auswärtiges Aiut.
Unabhängige Sozialdemokraten werden morgen hier eine Versammlung ab
halten, die die Abdankung des Kaisers fordern wird.
"„ gez. Treutler.