Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
100 Finanzen und Steuern. II. Buch. 
  
nach größerer Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit bei der Verteilung der Steuerlasten 
Rechnung getragen wurde, so konnte dieses nach der ganzen Natur der Aufwand- und 
Verkehrssteuern doch nur in beschränktem Maße zur Geltung gelangen. Anders in den 
Einzelstaaten. Seit das Reich sich der Zölle, Aufwandsteuern und Berkehrssteuern 
bemächtigt hatte, waren diese, mit wenigen Ausnahmen, auf die Ausnutzung ihrer direk- 
ten Steuern angewiesen. Außerordentlich groß waren noch vor 25 Jahren die Ver- 
schiedenheit der tatsächlichen Verhältnisse in den Einzelstaaten; aber keines der Steuer- 
spsteme zeigte sich den drängenden Anforderungen auf die Dauer gewachsen. Sie ent- 
sprachen älteren, einfacheren Verhältnissen; die ihnen anhaftenden Mängel mußten bei 
Steigerung der Sätze unerträglich werden. Das sich verfeinernde Gerechtigkeitsgefühl 
drängte zu neuen Grundlagen und Formen. So sind die 25 Jahre erfüllt von 
einzelstaatlichen Steuerreformen, deren Antrieb in der Not der Bedürfnisse gegeben, 
deren Ergebnis aber letzten Endes eine gerechtere Verteilung und eine weit bessere 
Technik war. Der Entwicklungsgang war verschieden, wie dies bei der Verschiedenheit 
der historischen Verhältnisse und der wirtschaftlichen Zustände kaum anders sein konnte; 
der eine Staat hat rasch, der andere zögernd und unter großen Schwierigkeiten den Fort- 
schritt vollzogen. Aber, mit verschwindenden Ausnahmen, haben die deutschen Staaten 
den Ubergang zur Personalbesteuerung im Prinzipe vorgenommen und sind damit, was 
das direkte Steuerwesen betrifft, an die Spitze der Kulturstaaten getreten. Nur für die 
Lösung des schweren Problems der Gemeindebesteuerung ist der Schlüssel noch nicht 
gefunden. Und die unzweifelhaften Fortschritte, die auch hierin die letzten 25 Jahre ge- 
bracht haben, können über ihre Mängel nicht hinwegtäuschen. Es wird Aufgabe der 
Zukunft sein, ihrer Weiterbildung sich zu widmen. 
Die reiche Entwicklung der Finanzen und insonderheit des Steuerwesens in dem 
Zeitraum von 1888 bis heute für das Reich in ihren wichtigsten Etappen und Ergeb- 
nissen kurz darzustellen, soll auf den folgenden Seiten versucht werden. Ein Ein- 
gehen auf die Finanzverhältnisse der Einzelstaaten und Gemeinden ist wegen der Be- 
schränktheit des Raumes nicht möglich. 
Die Ausgaben des Reichs sind bedingt von 
seinen Aufgaben. Als diese werden in 
den Einleitungsworten der Reichsverfassung 
bezeichnet: „Schutz des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gül- 
tigen Rechtes“ und „Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes"“. Der Ar- 
tikel 4 führt sie des näheren auf: auf dem Gebiete der Macht- und äußeren Politik das 
Heer- und Marine-, Gesandtschafts- und Konsulatswesen, auf dem Gebiete der inneren 
Politik die Wahrung der wirtschaftlichen Einheit durch die Zoll- und Handelsgesetzgebung, 
die Fürsorge für die allgemeinen Interessen bei Eisenbahnen, Wasserstraßen und im 
Lachrichtenverkehr, die Regelung des Gewerberechts, des Versicherungswesens, des 
Erfinderschutzes und des Schutzes des geistigen Eigentums, die Sicherung der Rechts- 
einheit im gesamten bürgerlichen Recht, im Strafrecht und im gerichtlichen Verfahren. 
1. Das Ausgabewesen. 
Die Ausgaben im allgemeinen. 
  
  
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