X. Buch. Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungslehre. 99
indem das Zellengewebe der einen in dem der andern steckt, wie eine Hand im Hand-
schub. Zu dieser letzteren Art von Chimären gehört auch der Cytisus Adami, d. h. der
oben erwähnte Mischling zwischen dem gelbblühenden und dem rotblühenden Goldregen.
Indem Botaniker und Zoologen miteinander wetteiferten, das Gebiet der Fort-
pflanzung der Organismen und ihrer Abänderung zu neuen Formen und Rassen ein-
gehend zu bearbeiten, stellte sich auch dabei die Ubereinstimmung des tierischen und pflanz-
lichen Lebens in seinen Grunderscheinungen immer mehr heraus, und immer mehr
drängte sich das gewaltigste Problem aller Naturwissenschaft in den
Vordergrund, was das Leben eigentlich sei, und wie
es begriffen werden müsse. Daß sich in der Auffassung
des Lebens bereits frühzeitig Parteistandpunkte geltend machten, beweist, daß man an
die Lösung dieses Problems vielfach mit dogmatischen Vorurteilen anstatt mit der Methode
einer besonnenen Naturforschung herangetreten war, die einfach untersucht und fragta
ganz unbekümmert darum, wie auch die Antwort ausfallen möge.
In dem unfrer Epoche vorausgehenden Zeitabschnitte herrschte die Lehre, daß die
Organismen und damit alle Lebenserscheinungen lediglich mechanistisch aufgefaßt und
begriffen werden müßten; das will sagen: eine Pflanze oder ein Tier, auch das voll-
kommenste, ist lediglich ein Mechanismus, eine Maschine, nur von einem so verwickelten
Bau der ineinandergreifenden und zusammenwirkenden Teile, daß die wissenschaftliche
Analyse dies rein mechanische Getriebe noch nicht zu entwirren und völlig aufzuklären
vermochte, wie wir etwa eine Taschenuhr, eine Spieldose oder eine Dampfmaschine zu
erklären wissen. In einer noch früheren Zeit glaubte man dagegen, daß eine besondere
Lebenskraft in den Organismen wirksam sei, und daß die Außerungen dieser Kraft, die
mit keiner der in der leblosen Natur wirksamen Kräfte übereinstimmen sollte, eben das-
jenige darstelle, was wir Leben nennen. Allein diese „Lebenskraft“ geriet nach und nach
mit immer mehr allgemeinen Prinzipien der Naturwissenschaft in Widerspruch, so daß
man sie fallen lassen mußte, und daß darauf jener Umschwung der Meinungen eintrat,
der zu einer völlig entgegengesetzten Auffassung des Lebens führte, zu der Lehre, das
Leben sei nur ein verwickelter Sonderfall jenes allgemeinen Naturgeschehens, das in der
leblosen Welt herrscht. Man wurde zu dieser Anschauung hauptsächlich durch die Erkenntnis
bewogen, daß der Körper der Pflanzen und Tiere zusammengesetzt ist aus chemischen
Verbindungen, wie wir sie auch außerhalb des Organismus kennen, und die wir größten--
teils künstlich in unseren Laboratorien herstellen können; daß diese Verbindungen auf-
einander wirken nach den allgemeinen chemischen Gesetzen; daß es ferner physikalische
Kräfte und Prozesse sind, die überall im lebendigen Körper in Wirksamkeit stehen, und
daß alle Lebensvorgänge auf einer Grundlage chemischer und phpsikalischer Erscheinungen
ruhen. So machte man die Physiologie, das ist die Lehre von den Lebensvorgängen, zu
einer Chemie und Physik des Organiemus, wie es z. B. eine Phpsik der Dampfmaschine
und eine Chemie der elektrischen Batterie gibt, welche beide Mechanismen restlos physi-
kalisch und chemisch erklärbar sind. A#llein je größer die Fortschritte waren im physio-
logischen Experiment, je mehr es gelang, unfre chemischen und phpsikalischen Kenntnisse
für die Erklärung von Vorgängen im Organismus zu verwerten, um so mehr drängte sich
Wesen des Lebens.
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