298 Artikel 15. Das kirchenpolitische System der Verfassung.
Koordinationslehre mochte 1849 wohl den stillen Wünschen einzelner
katholischer Abgeordneten entsprechen (zu denen Reichensperger damals
nicht gehörte: in seiner oben erwähnten Rede, II. K. 1099, lehnt er
den Gedanken, daß die „Nebeneinanderordnung von Staat und Kirche
zu gleichem Recht“ von der Verfassung aufgenommen sei, ausdrücklich
ab; 25 Jahre später war er hierin anderer Meinung geworden;
vgl. oben S. 294), die verfassungsgebenden Faktoren aber wollten sie
nicht und die Deklaration vom 5. April 1873 hat den Irrtum derer,
welche sie aus dem Art. 15 herauslesen wollten, aus das unzweideutigste
berichtigt.
Aber auch von dem Gedanken der reinen und konsequenten
Trennung, der Trennung von Staat und Kirche i. e. S. hat man
1848/49 nichts wissen wollen. In Berlin jedenfalls viel weniger als
in Frankfurt. Es mag dahingestellt bleiben, ob — was bisher immer
angenommen wurde, neuerdings aber von manchem (Kahl, Aphorismen
zur Trennung von Staat und Kirche, Rektoratsrede, 1908 S. 24
anders früher, Lehrsystem 297; Rotenbücher, Trennung von Staat
und Kirche 105) bezweifelt wird — # 147 der Frankfurter Grund-
rechte (s. oben S. 284) den gesetzgeberischen Formulierungen des reinen
Trennungssystems zuzuzählen ist. Von Art. 15 kann letzteres sicher nicht
behauptet werden und bezeichnend hierfür ist vor allem, daß man bei
der Fassung des Art. 15 sich zwar im allgemeinen den Frankfurter
Text zum Vorbild nahm (s. oben S. 283, 284), gerade den Satz des
Vorbildes aber, welcher dem Trennungsgedanken am weitesten entgegen-
kommt (,„keine Religionsgesellschaft genießt vor andern Vorrechte durch
den Staat“) wegließ, und, in weiterer konsequenter Abweichung von
den Beschlüssen der Paulskirche, durch ausdrückliche Anführung der
„evangelischen und katholischen Kirche“ vor den „andern Religions-
gesellschaften“ den Willen kundgab, die privilegierte Stellung der Landes-
kirchen aufrechtzuerhalten.
Damit entfällt aber eines der wesentlichen Merkmale der Trennung
von Staat und Kirche i. e. S.: die unbedingte Parität der
Religionsgesellschaften, die Ordnung ihrer privat= und öffentlich-
rechtlichen Verhältnisse auf dem gleichen Fuße strikter Privilegienlosigkeit.
Es fehlen aber auch die andern Kriterien: die Herabdrückung sämtlicher
Religionsgesellschaften auf das Niveau von Privatvereinen, die Ver-
sagung besonderen Staatsschutzes und staatlicher Subventionierung, der
religiöse Indifferentismus der Staatsgewalt. Die durch Art. 15 nicht
beseitigte, vielmehr bestätigte (s. den oben S. 284 angegebenen Satz
der „Erläuterungen“), unter der Herrschaft desselben und auch nach