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so kann auch das erste und wichtigste Reichsgesetz, auf dem alle
weitere Reichsgesetzgebung beruht, die Reichsverfassung, nicht
bloss ein in allen Staaten übereinstimmend erlassenes Landesver-
fassungsgesetz, sondern sie muss die erste Willensäusserung der
zur Existenz gelangten Bundesstaatsgewalt sein. Nicht einem
Gebote ihrer particularen Staatsgewalt gehorchen die Preussen,
die Württemberger, die Hamburger, wenn sie die Wahlen zum
Reichstage vornehmen oder sich zum Dienste im Heere oder in
der Flotte stellen, sondern dem Gebote der Reichsstaatsgewalt,
die sich nur in manchen Beziehungen der Behörden der Einzel-
staaten als ihrer Organe, als mittelbarer Reichsbehörden bedient.
Beruht nun aber für die Unterthanen die verbindliche Kraft
der Reichsverfassung nicht auf übereinstimmenden Landesver-
fassungsgesetzen, zu deren Erlasse die Einzelstaaten sich völker-
rechtlich verpflichtet hatten, so ist auch für die Staaten die fort-
dauernde Geltung der Reichsverfassung unabhängig von der völker-
rechtlichen Verpflichtung. Ein Vertrag der sämmtlichen deutschen
Staaten, die auf Grund des Augustbündnisses und der Versailler
Verträge gegen einander eingegangenen Verbindlichkeiten zu lösen
und der Erlass der zur Ausführung eines solchen Vertrages er-
forderlichen Landesausführungsgesetze betreffend Aufhebung der
Reichsverfassung in denselben würde keinen deutschen Staat von
der Verpflichtung zur fortdauernden Beobachtung der Reichsver-
fassung entbinden. Denn diese kann nur auf dem reichsverfassungs-
mässigen Wege abgeändert werden. Für die Einzelstaaten ist
daher die Reichsverfassung nicht internationales Vertragsrecht,
sondern gleichfalls objectives, von der souveränen Reichsgewalt
gesetztes Recht.
Die gegenwärtige Verbindlichkeit der Reichsverfassung beruht
weder für die Unterthanen auf einem übereinstimmenden Landes-
verfassungsgesetze der deutschen Bundesstaaten, noch für die
Staaten auf der eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtung,
sondern für beide auf dem eigenen Herrschaftsrechte der Reichs-