118 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oktober 8.)
Redner sucht in anderthalbstündigem Vortrage den Nachweis zu lie-
fern, daß die Sozialdemokratie sowohl die äußere wie die innere Politik
beherrsche. In der äußeren Politik wäre es längst zur Katastrophe gekom-
men, wenn nicht die Furcht vor der Arbeiterbewegung, die vielleicht die
Zirkel hoher und höchster Herren stören könnte, sie bisher hintangehalten
hätte. Alles in allem würden bei dem kommenden Kriege etwa 300 Mill.
Einwohner auf ca. 9 Mill. Quadratkilometer beteiligt sein. Die Schlachten
werde man gar nicht mehr übersehen, die Toten nicht beerdigen, die Ver-
wundeten nicht unterbringen können. Die Wirkungen des Krieges auf den
moralischen Zustand und die ökonomische Lage der Völker seien gar nicht
abzusehen: der soziale Zusammenbruch und die ökonomische Revolution würden
ohne Beispiel sein. Das eben sei es, was den herrschenden Klassen Kopf-
zerbrechen mache. Die Dinge seien auf die Spitze getrieben, und die Hun-
gersnot im Lande habe Rußland verhindert, jetzt loszuschlagen. Der Sozia-
lismus werde durch den Krieg zu einer Macht anwachsen, an die niemand
denke, indem die Thatsachen des Krieges allen Völkern zeigen würden, wohin
die heutige Gesellschaftsordnung führe. nämlich zur gegenseitigen Zerfleischung.
Die Sozialdemokratie habe stets die Aussöhnung mit Frankreich gewollt;
wenn man aber lieber 42 Millionen auf der Strecke liegen sehen wolle, ehe
man einen Stein von einer Festung hergebe, dann müßten allerdings die
Dinge auf die Spitze kommen. Im nächsten Kriege handle es sich für die
deutsche Sozialdemokratie um die Existenz als Nation und als Partei; daher
sei es ihre Pflicht, mit dem politischen Gegner zusammenzugehen und alles
daran zu setzen, daß um jeden Preis der Barbar zu Boden geschmettert
werde, koste es, was es wolle. (Stürmisches Bravo! und Händeklatschen.)
Jeder habe dahin zu wirken, daß der Sieg sich an die deutschen Fahnen
hefte, daß Rußland in seiner heutigen Gestalt zerstückelt und seine Macht
mehr nach Osten geschoben würde. Polen sei als ein politisch und wirt-
schaftlich mit Deutschland verbundener Staat wiederherzustellen, der sozia-
listische Gedanke in die Völker, auch das russische, hineinzutragen, Rußland
von außen und innen zu revolutionieren, damit endlich die beständige Kriegs-
gefahr ein Ende nehme. Wenn erst die Vereinigung der Völker auf demo-
kratischer Grundlage hergestellt sei, dann werde Friede sein auf Erden und
den Menschen ein Wohlgefallen. (Stürmischer, anhaltender Beifall.) Eine
Diskussion wurde mit allen gegen ca. zehn Stimmen abgelehnt.
8. Oktober. (Stuttgart.) Sämtlichen Truppen des würt-
tembergischen Armeekorps wird bei der Paroleausgabe folgender
Tagesbefehl mitgeteilt:
„Offiziere, Unteroffiziere, Soldaten Meines Armeekorps! Ihr habt
Mir heute den Eid der Treue geleistet! Es ist Mir Bedürfnis, bei diesem
Anlaß Euch zu sagen, wie Ich Mich versichert halte, daß Ihr unter Meiner
Regierung die ersten Soldatentugenden, welche sind Treue, Mut, Ausdauer
in Gefahr und Beschwerde, Manneszucht und Gehorsam, bewahren und —
wenn des Vaterlandes Schutz es erfordern sollte — bethätigen und damit
in die Fußtapfen Eurer Vorgänger treten werdet, die auf dem Schlachtfelde
mit ihrem Blut dem Armeekorps eine ehrenvolle Stelle in der glorreichen
Geschichte des Jahrhunderts erkämpft und für alle Zeiten gesichert haben.
Euer in Gott ruhender König, Mein Herr Obheim, ist in Kriegszeiten, wie
in langen Jahren des Friedens Euch ein gnädiger, für jeden von Euch
warmfühlender, treubesorgter Kriegsherr gewesen. Ihm bewahret ein ehr-
furchtsvolles, dankbares Andenken. Ich habe in zwei Feldzügen an Eurer
Seite gekämpft und die Gefahr mit Euch geteilt; dies begründet ein unauf-