475
Ortsstatuten das Gesetz vom 14. April 1856 be-
treffend die Landgemeindeverfassung in den sechs
Oetzt sieben) östlichen Provinzen, indem es nur
wenige allgemeine Normen aufstellt, im übrigen
auf „die bestehende Ortsverfassung“ verweist und
nur eingreifen will, wenn diese „dunkel oder zwei-
felhaft“ ist. Die Verordnung vom 22. Sept. 1867
für Schleswig-Holstein gibt der Gemeinde das
Recht, statutarische Anordnungen zu treffen: 1) we-
gen derjenigen Gegenstände, in Hinsicht deren die-
selbe auf das Gemeindestatut verweist; 2) wegen
eigentümlicher Verhältnisse und Einrichtungen der
Gemeinde. Sie bezieht sich ebenfalls auf „die
bestehende Ortsverfassung“ und läßt die bestehen-
den Kommuneverbände für das Schul-, Armen-,
Wege= und Deichwesen unberührt. Die meisten
andern staatlichen Gemeindeordnungen in Preußen
und dem übrigen Deutschland erwähnen zwar auch
der Ortsstatuten, gehen jedoch in ihren Bestim-
mungen über die Ordnung des Gemeindewesens
weit mehr ins einzelne, so daß der freie Raum
für die Betätigung des gemeindlichen Statutar-
rechts ein sehr geringer ist. Die auf französischen
Traditionen beruhenden Gemeindegesetzgebungen
der Pfalz und Elsaß-Lothringens kennen Orts-
statuten gar nicht, während die rheinische Land-
gemeindeordnung vom 23. Juli 1845 und die
Rheinische Städteordnung vom 15. Mai 1856,
obwohl ebenfalls an französische Ideen anknüpfend,
derselben wenigstens noch erwähnen, wenn sie ihnen
auch nur einen sehr kleinen Wirkungskreis offen
lassen, nämlich nur so weit, als das Gesetz selbst
Verschiedenheiten gestattet, oder zur Ergänzung
und näheren Bestimmung des Gesetzes.
Die Reichsgesetzgebung hat sich bisher dem ge-
meindlichen Statutarrecht nicht eben ungünstig er-
wiesen. Die Gewerbeordnung bestimmt in § 142
für das Gebiet des Gewerberechts: „Ortsstatuten
können die ihnen durch das Gesetz überwiesenen
gewerblichen Gegenstände mit verbindlicher Kraft
ordnen.“ Solche Überweisungen haben in der Ge-
Gemeindeordnung.
werbeordnung mehrere stattgefunden, ebenso in der
späteren sozialpolitischen Gesetzgebung. Zu er-
wähnen ist namentlich die Errichtung und nähere
Bestimmung von Gewerbe= und Kaufmannsge-
richten durch die Gemeinde. Wo die Ortspolizei
Gemeindeangelegenheit ist und nicht nur von Ge-
meindeorganen im Auftrage des Staates verwaltet
wird, gehören auch die Polizeiverordnungen zu
den Ortsstatuten. Eine besondere Bedeutung
haben von diesen die Verordnungen auf dem Ge-
biete des Bauwesens.
Die heutigen Gemeindeordnungen Deutschlands
beruhen durchweg auf dem sog. Territorial=
prinzip. Nach demselben gehört jedes Grund-
stück, das innerhalb der — meist historisch gewor-
denen — Grenzen des Gemeindebezirks liegt, zur
Gemeinde, und sämtliche Bewohner dieses Bezirks
bilden die Gemeinde. Die solchergestalt begrün-
l
dete Zugehörigkeit eines Grundstücks oder einer
Person zur Gemeinde bringt vor allem die Pflicht ordnung, welche jedoch vorwiegend für den öst-
476
zur Tragung der Gemeindelasten mit sich. Doch
wird dieses Prinzip zuweilen durchbrochen von
dem Personalprinzip, wonach nach bestimmten
wirtschaftlichen Merkmalen begrenzte Kreise von
Personen, die innerhalb eines oder mehrerer Ge-
meindebezirke wohnen können, zu sog. Spezial-
gemeinden vereinigt sind, welche von den sonst
der Gemeinde obliegenden Aufgaben nur eine
einzelne sich zum Zweck gesetzt haben, daher auch
Zweckverbände genannt werden. Eine solche
Spezialgemeinde ist heute in Deutschland regel-
mäßig die Kirchengemeinde, durch das persönliche
Merkmal der Konfessionalität aus der Orts-
gemeinde herausgehoben und — vom staatlichen
Standpunkt aus — die zur Befriedigung der reli-
giösen Bedürfnisse notwendigen äußeren Veran-
staltungen besorgend. Außerdem kennt das Gebiet
des preußischen Landrechts besondere Deichver-
bände usw., ähnlich in Schleswig-Holstein und
anderswo. Die früher in Preußen bestehenden
Schulgemeinden sind durch das Schulunterhal-
tungsgesetz vom 28. Juli 1906 in Wegfall ge-
kommen. Auch die Ortsarmenverbände, soweit sie
sich über mehrere Gemeindebezirke erstrecken, sind
zu diesen Spezialgemeinden zu rechnen. Ihre wei-
teste Ausdehnung haben sie in England in den
sog. local boards gefunden, wo sie auf dem Lande
das Territorialprinzip vollständig überwuchern
und die Ortsgemeinde auflösen. Nur in den eng-
lischen Städten ist die Ortsgemeinde als eine
grundsätzlich alle gemeindlichen Interessen pflegende
Organisation erhalten.
Die Anzahl der Landgemeinden nimmt deuernd
etwas ab, indem solche mit Stadtgemeinden ver-
einigt, eingemeindet werden. Dagegen vermehrt
sie sich in Preußen in nicht unerheblichem Maße,
während die Anzahl der Gutsbezirke zurückgeht,
und zwar durch die Tätigkeit der Ansiedlungskom=
mission auf Grund des Gesetzes betreffend Förde-
rung der deutschen Ansiedlungen in den Provinzen
Westpreußen und Posen vom 26. April 1886
sowie durch die Bildung von Rentengütern unter
Vermittlung der Generalkommissionen auf Grund
des Gesetzes vom 27. Juni 1890, indem Guts-
bezirke in Bauerngüter zerlegt und diese zu Land-
gemeinden vereinigt werden. So hatte die Ansied-
lungskommission bis Ende 1906 772 Güter,
meist Gutsbezirke, angekauft und 315 neue Dörfer
gegründet. Zur Rentengutsbildung unter Vermitt-
lung der Generalkommissionen waren bis 1905
1315 Güter verwendet worden, davon ebenfalls
die meisten Gutsbezirke. Am 1. Okt. 1905 wur-
den in Preußen gezählt 1279 Städte, 36 070
Landgemeinden und 15 682 Gutsbezirke.
In Preußen enthielt das Allgemeine Land-
recht von 1794 in Teil II, Titel 8, Abschn. 2
eine kurze Städteordnung, welche aber gegenüber
den bestehenden Zuständen nur subsidiäre Geltung
haben sollte: eine aus den bestehenden Einrich-
tungen nicht ungeschickt abgeleitete Normalstädte-