Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Ortsstatuten das Gesetz vom 14. April 1856 be- 
treffend die Landgemeindeverfassung in den sechs 
Oetzt sieben) östlichen Provinzen, indem es nur 
wenige allgemeine Normen aufstellt, im übrigen 
auf „die bestehende Ortsverfassung“ verweist und 
nur eingreifen will, wenn diese „dunkel oder zwei- 
felhaft“ ist. Die Verordnung vom 22. Sept. 1867 
für Schleswig-Holstein gibt der Gemeinde das 
Recht, statutarische Anordnungen zu treffen: 1) we- 
gen derjenigen Gegenstände, in Hinsicht deren die- 
selbe auf das Gemeindestatut verweist; 2) wegen 
eigentümlicher Verhältnisse und Einrichtungen der 
Gemeinde. Sie bezieht sich ebenfalls auf „die 
bestehende Ortsverfassung“ und läßt die bestehen- 
den Kommuneverbände für das Schul-, Armen-, 
Wege= und Deichwesen unberührt. Die meisten 
andern staatlichen Gemeindeordnungen in Preußen 
und dem übrigen Deutschland erwähnen zwar auch 
der Ortsstatuten, gehen jedoch in ihren Bestim- 
mungen über die Ordnung des Gemeindewesens 
weit mehr ins einzelne, so daß der freie Raum 
für die Betätigung des gemeindlichen Statutar- 
rechts ein sehr geringer ist. Die auf französischen 
Traditionen beruhenden Gemeindegesetzgebungen 
der Pfalz und Elsaß-Lothringens kennen Orts- 
statuten gar nicht, während die rheinische Land- 
gemeindeordnung vom 23. Juli 1845 und die 
Rheinische Städteordnung vom 15. Mai 1856, 
obwohl ebenfalls an französische Ideen anknüpfend, 
derselben wenigstens noch erwähnen, wenn sie ihnen 
auch nur einen sehr kleinen Wirkungskreis offen 
lassen, nämlich nur so weit, als das Gesetz selbst 
Verschiedenheiten gestattet, oder zur Ergänzung 
und näheren Bestimmung des Gesetzes. 
Die Reichsgesetzgebung hat sich bisher dem ge- 
meindlichen Statutarrecht nicht eben ungünstig er- 
wiesen. Die Gewerbeordnung bestimmt in § 142 
für das Gebiet des Gewerberechts: „Ortsstatuten 
können die ihnen durch das Gesetz überwiesenen 
gewerblichen Gegenstände mit verbindlicher Kraft 
ordnen.“ Solche Überweisungen haben in der Ge- 
Gemeindeordnung. 
  
  
werbeordnung mehrere stattgefunden, ebenso in der 
späteren sozialpolitischen Gesetzgebung. Zu er- 
wähnen ist namentlich die Errichtung und nähere 
Bestimmung von Gewerbe= und Kaufmannsge- 
richten durch die Gemeinde. Wo die Ortspolizei 
Gemeindeangelegenheit ist und nicht nur von Ge- 
meindeorganen im Auftrage des Staates verwaltet 
wird, gehören auch die Polizeiverordnungen zu 
den Ortsstatuten. Eine besondere Bedeutung 
haben von diesen die Verordnungen auf dem Ge- 
biete des Bauwesens. 
Die heutigen Gemeindeordnungen Deutschlands 
beruhen durchweg auf dem sog. Territorial= 
prinzip. Nach demselben gehört jedes Grund- 
stück, das innerhalb der — meist historisch gewor- 
denen — Grenzen des Gemeindebezirks liegt, zur 
Gemeinde, und sämtliche Bewohner dieses Bezirks 
bilden die Gemeinde. Die solchergestalt begrün- 
l 
  
dete Zugehörigkeit eines Grundstücks oder einer 
Person zur Gemeinde bringt vor allem die Pflicht ordnung, welche jedoch vorwiegend für den öst- 
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zur Tragung der Gemeindelasten mit sich. Doch 
wird dieses Prinzip zuweilen durchbrochen von 
dem Personalprinzip, wonach nach bestimmten 
wirtschaftlichen Merkmalen begrenzte Kreise von 
Personen, die innerhalb eines oder mehrerer Ge- 
meindebezirke wohnen können, zu sog. Spezial- 
gemeinden vereinigt sind, welche von den sonst 
der Gemeinde obliegenden Aufgaben nur eine 
einzelne sich zum Zweck gesetzt haben, daher auch 
Zweckverbände genannt werden. Eine solche 
Spezialgemeinde ist heute in Deutschland regel- 
mäßig die Kirchengemeinde, durch das persönliche 
Merkmal der Konfessionalität aus der Orts- 
gemeinde herausgehoben und — vom staatlichen 
Standpunkt aus — die zur Befriedigung der reli- 
giösen Bedürfnisse notwendigen äußeren Veran- 
staltungen besorgend. Außerdem kennt das Gebiet 
des preußischen Landrechts besondere Deichver- 
bände usw., ähnlich in Schleswig-Holstein und 
anderswo. Die früher in Preußen bestehenden 
Schulgemeinden sind durch das Schulunterhal- 
tungsgesetz vom 28. Juli 1906 in Wegfall ge- 
kommen. Auch die Ortsarmenverbände, soweit sie 
sich über mehrere Gemeindebezirke erstrecken, sind 
zu diesen Spezialgemeinden zu rechnen. Ihre wei- 
teste Ausdehnung haben sie in England in den 
sog. local boards gefunden, wo sie auf dem Lande 
das Territorialprinzip vollständig überwuchern 
und die Ortsgemeinde auflösen. Nur in den eng- 
lischen Städten ist die Ortsgemeinde als eine 
grundsätzlich alle gemeindlichen Interessen pflegende 
Organisation erhalten. 
Die Anzahl der Landgemeinden nimmt deuernd 
etwas ab, indem solche mit Stadtgemeinden ver- 
einigt, eingemeindet werden. Dagegen vermehrt 
sie sich in Preußen in nicht unerheblichem Maße, 
während die Anzahl der Gutsbezirke zurückgeht, 
und zwar durch die Tätigkeit der Ansiedlungskom= 
mission auf Grund des Gesetzes betreffend Förde- 
rung der deutschen Ansiedlungen in den Provinzen 
Westpreußen und Posen vom 26. April 1886 
sowie durch die Bildung von Rentengütern unter 
Vermittlung der Generalkommissionen auf Grund 
des Gesetzes vom 27. Juni 1890, indem Guts- 
bezirke in Bauerngüter zerlegt und diese zu Land- 
gemeinden vereinigt werden. So hatte die Ansied- 
lungskommission bis Ende 1906 772 Güter, 
meist Gutsbezirke, angekauft und 315 neue Dörfer 
gegründet. Zur Rentengutsbildung unter Vermitt- 
lung der Generalkommissionen waren bis 1905 
1315 Güter verwendet worden, davon ebenfalls 
die meisten Gutsbezirke. Am 1. Okt. 1905 wur- 
den in Preußen gezählt 1279 Städte, 36 070 
Landgemeinden und 15 682 Gutsbezirke. 
In Preußen enthielt das Allgemeine Land- 
recht von 1794 in Teil II, Titel 8, Abschn. 2 
eine kurze Städteordnung, welche aber gegenüber 
den bestehenden Zuständen nur subsidiäre Geltung 
haben sollte: eine aus den bestehenden Einrich- 
tungen nicht ungeschickt abgeleitete Normalstädte-
	        
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