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schaft und Kunst oder der Politit und dem höheren
Staatsdienst gewidmetes Leben vorbereiten können.
Aber auch wenn sie sich zu einer erwerbenden
Tätigkeit wenden, haben sie infolge des ererbten
Kapitals und der umfassenderen Bildung einen
weiten Vorsprung vor denen, die schon in jungen
Jahren um des Lebens Notdurft arbeiten müssen
und infolgedessen vielleicht niemals zu einer ge-
sicherten wirtschaftlichen Existenz gelangen.
Daß diese Ungleichheit durch die moderne Pro-
duktionsweise ins Ungemessene gesteigert und be-
festigt werde, ist zuvor bereits kurz angedeutet
worden. Niemand wird verkennen, daß hierin
eine ernste Gefahr liegt, daß es ein schreiendes
Mißverhältnis ist, wenn etwa das Jahresein-
kommen eines einzigen Bankhauses so groß ist wie
das vieler Tausende von Arbeiterfamilien zusam-
mengenommen, wenn auf der einen Seite wenige
einzelne ungeheure Summen in sinnlosem Luxus
vergeuden, während auf der andern Massen von
Arbeitern nur mit Mühe, wenn überhaupt, für ihren
und der Ihrigen Tagesbedarf aufzukommen ver-
mögen. Verlangt man aber nach gesetzgeberischen
und administrativen Mitteln, diese Übel zu heilen,
so hat man sich zunächst die Frage vorzulegen,
wann jene Entwicklung zur Ungleichheit aufhöre,
eine berechtigte und zulässige zu sein, welche Gleich-
heit vom Rechte geschützt, welche Ungleichheit mit
staatlichen Mitteln beseitigt werden kann und be-
seitigt werden muß.
3. Das Verlangen nach Gleichheit des
Besitzes. Den festen Punkt, von dem hierbei
auszugehen ist, bildet die absolute Gleichheit der
Menschen in Bezug auf ihre letzte Bestimmung
und die hierauf gegründete Würde der menschlichen
Persönlichkeit. Hier gibt es schlechterdings
keinen Unterschied, so wenig des Standes und der
Geburt wie der Rasse und Farbe. Hieraus aber
folgt unmittelbar, daß allen gleichmäßig der un-
veräußerliche Anspruch auf dasjenige zukommt,
was zur Erreichung des Endzweckes absolut un-
entbehrlich ist. Alle haben das gleiche Recht auf
Leben und Gesundheit und freie Lebensgestaltung.
Für diese letztere gibt es keine Schranke als das
allgemeine Sittengesetz und die allgemeine Rechts-
ordnung. Jede darüber hinausgehende Beschrän-
kung, jede Verkümmerung der Berufsfreiheit, jedes
Ausschließen einer Gruppe oder Klasse der Bevöl-
kerung von der Möglichkeit, die gottverliehenen
Kräfte allseitig und vollständig zu entwickeln, ist
verwerflich. Man möge nicht glauben, daß damit,
für die modernen Kulturstaaten wenigstens, nur
eine Forderung von geringer Tragweite ausge-
sprochen sei. Es gibt keine Kasten, es gibt keinen
Unterschied mehr von Freien und Unfreien, keine
Gebundenheit an die Scholle; aber solange noch
irgendwo der wirtschaftlich unselbständige Lohn-
arbeiter durch die Not des Lebens gezwungen ist,
gesundheitsschädliche Arbeit ohne wirksame Schutz-
maßregeln vorzunehmen, wenn er durch Sonntags-
arbeit an der Betätigung seines religiösen Lebens
Gleichheit.
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gehindert ist, wenn die Ausbeutung der Arbeits-
kraft von Frauen und Kindern die Familie zer-
reißt und ein physisch und moralisch depraviertes
Geschlecht heranwachsen läßt: so fehlt sicherlich noch
viel daran, daß das berechtigte Verlangen nach
Gleichheit tatsächlich befriedigt wäre. Eine aus-
reichende Arbeiterschutzgesetzgebung ist recht eigent-
lich die Verwirklichung des Gedankens, daß dem
menschlichen Leben und der menschlichen Familie
derselbe Wert zukomme, ob es sich um wirtschaft-
lich Starke oder um wirtschaftlich Schwache
handelt.
Alle also haben Anspruch auf ein menschen-
würdiges Dasein, und wo die Entwicklung des
Kulturlebens eine Richtung einschlägt, welche für
einzelne oder ganze Klassen die Befriedigung
dieses Anspruches ausschließt, hat der Staat die
Pflicht, mit seiner Gesetzgebung und Zwangs-
gewalt für denselben einzutreten. Niemand da-
gegen hat ein Recht auf Reichtum oder behag-
lichen Wohlstand. Das Menschengeschlecht im
allgemeinen ist auf Grund der Weltordnung und
seiner Weltstellung Eigentümer der von der Natur
dargebotenen Sachgüter. Aber daraus folgt nicht,
daß ein jedes einzelne Mitglied der Menschheit
ein Recht auf einen aliquoten Teil derselben habe.
Ein Recht, und zwar ein wirkliches, striktes und
zugleich natürliches Recht, besitzt ein jeder nur auf
das, was ihm zur Erhaltung seines Lebens
schlechterdings notwendig ist. Darüber hinaus
kann und darf ein jeder Eigentum erwerben, so-
lange er sich dabei keiner unrechtlichen Mittel be-
dient; er kann und darf sich durch Aneignung von
Produktionsmitteln und geordnete Produktion
von der Sorge um den täglichen Unterhalt be-
freien; er kann und darf, nachdem so eine feste
Grundlage der wirtschaftlichen Existenz gelegt ist,
auch auf den Erwerb von solchen Gütern Bedacht
nehmen, welche der Bequemlichkeit und Ver-
schönerung des Lebens dienen. In den ver-
chiedenen Abstufungen von Eifer, Geschick und
Erfolg bei diesen Bestrebungen wird die natürliche
Verschiedenheit der Menschen ihren Ausdruck
finden. Sobald sie begonnen haben, beginnt auch
die Ungleichheit in den Lebensverhältnissen der
einzelnen, und die einmal eingeleitete Bewegung
hat in allen Kulturperioden Extreme der Ungleich-
heit zutage gefördert. Häufig genug mögen da-
bei die großen Reichtümer auch durch unlautere
Mittel zustande gekommen sein; doch muß diese
Erwägung hier außer Betracht bleiben. Fragt
man dagegen, ob die Ungleichheit in den Besitz-
verhältnissen und in all dem, was sich hieran an-
schließt, an sich gegen die Forderung des natür-
lichen Rechtes verstoße, so ist diese Frage zu ver-
neinen. Im Namen des Rechts und der Ge-
rechtigkeit kann der Staat erst dann gegen die
Entwicklung einschreiten, wenn die oben auf-
gestellte Grenze überschritten wird und dem Reich-
tum der einen eine solche wirtschaftliche Abhängig-
keit und Ohnmacht der andern gegenübersteht, daß
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