Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

797 
schaft und Kunst oder der Politit und dem höheren 
Staatsdienst gewidmetes Leben vorbereiten können. 
Aber auch wenn sie sich zu einer erwerbenden 
Tätigkeit wenden, haben sie infolge des ererbten 
Kapitals und der umfassenderen Bildung einen 
weiten Vorsprung vor denen, die schon in jungen 
Jahren um des Lebens Notdurft arbeiten müssen 
und infolgedessen vielleicht niemals zu einer ge- 
sicherten wirtschaftlichen Existenz gelangen. 
Daß diese Ungleichheit durch die moderne Pro- 
duktionsweise ins Ungemessene gesteigert und be- 
festigt werde, ist zuvor bereits kurz angedeutet 
worden. Niemand wird verkennen, daß hierin 
eine ernste Gefahr liegt, daß es ein schreiendes 
Mißverhältnis ist, wenn etwa das Jahresein- 
kommen eines einzigen Bankhauses so groß ist wie 
das vieler Tausende von Arbeiterfamilien zusam- 
mengenommen, wenn auf der einen Seite wenige 
einzelne ungeheure Summen in sinnlosem Luxus 
vergeuden, während auf der andern Massen von 
Arbeitern nur mit Mühe, wenn überhaupt, für ihren 
und der Ihrigen Tagesbedarf aufzukommen ver- 
mögen. Verlangt man aber nach gesetzgeberischen 
und administrativen Mitteln, diese Übel zu heilen, 
so hat man sich zunächst die Frage vorzulegen, 
wann jene Entwicklung zur Ungleichheit aufhöre, 
eine berechtigte und zulässige zu sein, welche Gleich- 
heit vom Rechte geschützt, welche Ungleichheit mit 
staatlichen Mitteln beseitigt werden kann und be- 
seitigt werden muß. 
3. Das Verlangen nach Gleichheit des 
Besitzes. Den festen Punkt, von dem hierbei 
auszugehen ist, bildet die absolute Gleichheit der 
Menschen in Bezug auf ihre letzte Bestimmung 
und die hierauf gegründete Würde der menschlichen 
Persönlichkeit. Hier gibt es schlechterdings 
keinen Unterschied, so wenig des Standes und der 
Geburt wie der Rasse und Farbe. Hieraus aber 
folgt unmittelbar, daß allen gleichmäßig der un- 
veräußerliche Anspruch auf dasjenige zukommt, 
was zur Erreichung des Endzweckes absolut un- 
entbehrlich ist. Alle haben das gleiche Recht auf 
Leben und Gesundheit und freie Lebensgestaltung. 
Für diese letztere gibt es keine Schranke als das 
allgemeine Sittengesetz und die allgemeine Rechts- 
ordnung. Jede darüber hinausgehende Beschrän- 
kung, jede Verkümmerung der Berufsfreiheit, jedes 
Ausschließen einer Gruppe oder Klasse der Bevöl- 
kerung von der Möglichkeit, die gottverliehenen 
Kräfte allseitig und vollständig zu entwickeln, ist 
verwerflich. Man möge nicht glauben, daß damit, 
für die modernen Kulturstaaten wenigstens, nur 
eine Forderung von geringer Tragweite ausge- 
sprochen sei. Es gibt keine Kasten, es gibt keinen 
Unterschied mehr von Freien und Unfreien, keine 
Gebundenheit an die Scholle; aber solange noch 
irgendwo der wirtschaftlich unselbständige Lohn- 
arbeiter durch die Not des Lebens gezwungen ist, 
gesundheitsschädliche Arbeit ohne wirksame Schutz- 
maßregeln vorzunehmen, wenn er durch Sonntags- 
arbeit an der Betätigung seines religiösen Lebens 
Gleichheit. 
  
798 
gehindert ist, wenn die Ausbeutung der Arbeits- 
kraft von Frauen und Kindern die Familie zer- 
reißt und ein physisch und moralisch depraviertes 
Geschlecht heranwachsen läßt: so fehlt sicherlich noch 
viel daran, daß das berechtigte Verlangen nach 
Gleichheit tatsächlich befriedigt wäre. Eine aus- 
reichende Arbeiterschutzgesetzgebung ist recht eigent- 
lich die Verwirklichung des Gedankens, daß dem 
menschlichen Leben und der menschlichen Familie 
derselbe Wert zukomme, ob es sich um wirtschaft- 
lich Starke oder um wirtschaftlich Schwache 
handelt. 
Alle also haben Anspruch auf ein menschen- 
würdiges Dasein, und wo die Entwicklung des 
Kulturlebens eine Richtung einschlägt, welche für 
einzelne oder ganze Klassen die Befriedigung 
dieses Anspruches ausschließt, hat der Staat die 
Pflicht, mit seiner Gesetzgebung und Zwangs- 
gewalt für denselben einzutreten. Niemand da- 
gegen hat ein Recht auf Reichtum oder behag- 
lichen Wohlstand. Das Menschengeschlecht im 
allgemeinen ist auf Grund der Weltordnung und 
seiner Weltstellung Eigentümer der von der Natur 
dargebotenen Sachgüter. Aber daraus folgt nicht, 
daß ein jedes einzelne Mitglied der Menschheit 
ein Recht auf einen aliquoten Teil derselben habe. 
Ein Recht, und zwar ein wirkliches, striktes und 
zugleich natürliches Recht, besitzt ein jeder nur auf 
das, was ihm zur Erhaltung seines Lebens 
schlechterdings notwendig ist. Darüber hinaus 
kann und darf ein jeder Eigentum erwerben, so- 
lange er sich dabei keiner unrechtlichen Mittel be- 
dient; er kann und darf sich durch Aneignung von 
Produktionsmitteln und geordnete Produktion 
von der Sorge um den täglichen Unterhalt be- 
freien; er kann und darf, nachdem so eine feste 
Grundlage der wirtschaftlichen Existenz gelegt ist, 
auch auf den Erwerb von solchen Gütern Bedacht 
nehmen, welche der Bequemlichkeit und Ver- 
schönerung des Lebens dienen. In den ver- 
chiedenen Abstufungen von Eifer, Geschick und 
Erfolg bei diesen Bestrebungen wird die natürliche 
Verschiedenheit der Menschen ihren Ausdruck 
finden. Sobald sie begonnen haben, beginnt auch 
die Ungleichheit in den Lebensverhältnissen der 
einzelnen, und die einmal eingeleitete Bewegung 
hat in allen Kulturperioden Extreme der Ungleich- 
heit zutage gefördert. Häufig genug mögen da- 
bei die großen Reichtümer auch durch unlautere 
Mittel zustande gekommen sein; doch muß diese 
Erwägung hier außer Betracht bleiben. Fragt 
man dagegen, ob die Ungleichheit in den Besitz- 
verhältnissen und in all dem, was sich hieran an- 
schließt, an sich gegen die Forderung des natür- 
lichen Rechtes verstoße, so ist diese Frage zu ver- 
neinen. Im Namen des Rechts und der Ge- 
rechtigkeit kann der Staat erst dann gegen die 
Entwicklung einschreiten, wenn die oben auf- 
gestellte Grenze überschritten wird und dem Reich- 
tum der einen eine solche wirtschaftliche Abhängig- 
keit und Ohnmacht der andern gegenübersteht, daß 
—
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.