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Rückgang des wirtschaftlichen Lebens aus den ent-
gegengesetzten Gründen sinken. Jedoch wird die
Grundrente nicht immer parallel zur wirtschaft-
lichen Entwicklung eines Landes sich ändern, da
verschiedene Faktoren und Tendenzen die Be-
wegung der Grundrente teils hemmend teils för-
dernd durchkreuzen. Die landwirtschaftliche Grund-
rente wird in Industriestaaten, die angewiesen sind
auf Lebensmittelzufuhr aus fremden Ländern, er-
heblich beeinflußt durch die Getreidepreise auf dem
Weltmarkt; zuweilen kann sie derart verringert
werden durch die ausländische Getreidekonkurrenz,
daß sie nur durch das künstliche Mittel der Schutz-
zölle auf ihrer bisherigen Höhe zu erhalten ist. So
ist der Rückgang der landwirtschaftlichen Grund-
rente in den alten europäischen Kulturländern durch
die überseeische Konkurrenz auf dem Getreidemarkte
zu erklären. Die Bergwerksrente zeigt in der Regel
noch geringere Stetigkeit als die landwirtschaftliche
Rente, da sie dem mit den Industriekonjunkturen
schwankenden Bedarf an Mineralien, namentlich
an Kohle und Eisen, unterworfen ist. Die städtische
Bodenrente wächst im allgemeinen mit der wachsen-
den Bevölkerung und dem wirtschaftlichen Auf-
schwunge einer Stadt. Aber auch hier unterliegt
die Grundrente mancherlei Verschiebungen nament-
lich infolge des modernen städtischen Verkehrs-
wesens, das die sonst immer größer werdende Sel-
tenheit des Bodens einigermaßen paralysiert.
3. Berechtigung des Grundrenten-
einkommens, soziale Folgerungen.
Wir glauben hier die theoretischen Bedenken über-
gehen zu können, die gegen die Existenz der Grund-
rente wohl geäußert wurden; die namentlich von
Carey und Bastiat vorgebrachten Argumente tref-
fen nicht den Kern der Sache und vermögen nicht
den Satz zu entkräften, daß die Grundrente ein
ganz gesonderter, von Kapital= und Arbeitsein-
kommen verschiedener Einkommenszweig ist.
Wichtiger scheint es, die Berechtigung des
Grundeigentümers zum Bezuge der Grundrente
kurz zu erörtern, zumal diese Berechtigung von
alten Sozialisten, wie Proudhon, und den neue-
ren Agrarsozialisten, besonders von deren Führer
Henry George, geleugnet wird. Als Rechtstitel zum
Bezug der Grundrente ist der Zuwachs anzusehen,
der vom römischen Recht ebenso wie von modernen
positiven Rechtsordnungen unter die Erwerbstitel
gezählt wird. Und zwar muß man hier den natür-
lichen Zuwachs (z. B. Früchte eines Baumes oder
eines Grundstücks) wie den gesellschaftlichen Zu-
wachs (z. B. Wertsteigerung eines Grundstücks
infolge gesellschaftlicher Anderungen) als Erwerbs-
titel gelten lassen; hier wie dort geht eine Ande-
rung im Eigentum des Besitzers vor, die nur die-
sem zugute kommen kann und die anderseits einem
Dritten kein Unrecht zufügt. Wenn George und
andere Agrarsozialisten behaupten, das Grund-
eigentum und speziell die Grundrente führe zu
einer Ausbeutung der ganzen Gesellschaft und
lasse das Einkommen sich im Besitze weniger Leute
Grundrente.
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konzentrieren, so scheinen sie dabei vorauszusetzen,
daß alle Grundstücke, die Rente bringen, unent-
ggeltliches und unverschuldetes Eigentum der heu-
tigen Besitzer seien, und daß die Rente ungeteilt
ihnen allein zufließe. Dem ist aber nicht so: der
Käufer eines rentebringenden Grundstückes hat die
vorhandene oder an sich mögliche Grundrente in
kapitalisierter Form im Kaufpreise gezahlt; beim
Erbgange sind derartige Grundstücke häufig zu-
gunsten der Miterben belastet; ein großer Teil der
tatsächlichen Grundrente ist infolge der Bodenver-
schuldung gar nicht Einkommen der juristischen
Grundeigentümer, sondern der Gläubiger: kurz
das Grundrenteneinkommen ist weit über den
Kreis der Grundeigentümer hinaus verteilt. —
Speziell hinsichtlich der städtischen Grundrente
schreiben George und andere den Wertzuwachs
des Bodens unmittelbar der Gesellschaft als sol-
cher zu, stellen die gesellschaftliche Arbeit schlecht-
hin als Ursache jenes Zuwachses hin und begrün-
den damit die Forderung, daß die Grundrente
zugunsten der Gesellschaft zu konfiszieren sei. Nun
ist ja freilich zuzugeben, daß der städtische Boden
infolge des Zusammenströmens vieler Menschen
an einem Punkte und infolge ihres wirtschaftlichen
Emporstrebens einen neuen Seltenheitswert er-
langt hat; aber hier kann man doch nicht von einer
Arbeit der Gesellschaft als solcher reden, von einer
Leistung der Gesellschaft an die Grundeigentümer;
die Grundrente ist nicht die unmittelbare Wirkung
einer Arbeit der Gesellschaft, sondern knüpft sich
mittelbar an die innerhalb der Gesellschaft vor-
gegangenen Anderungen an. Die Gesellschaft kann
daher auch nicht die Konfiskation der Grundrente
beanspruchen.
Wohl erscheint es durchaus gerecht, daß der
mühelose Gewinn des Wertzuwachses nach dem
Prinzip der größeren Leistungsfähigkeit in stär-
kerem Maße zur Steuer herangezogen werde; die
prinzipielle Berechtigung der neuerdings in immer
mehr Städten eingeführten Wertzuwachssteuer ist
gerade aus dem steten Wachsen der städtischen
Bodenrente abzuleiten. Auch hat die Gemeinde
das Recht und die Pflicht, die Auswüchse der
Bodenspekulation, die mit dem Wachsen der Bo-
denrente immer mächtiger geworden ist, zu ver-
hindern; ja es ist auch nichts dagegen einzuwen-
den, wenn zu diesem Zwecke die Stadtgemeinde
ihren eigenen Besitz in vernünftigem Maße aus-
dehnt. Aber eine Uberführung des gesamten städ-
tischen Bodens in unmittelbares Gemeindeeigen-
tum kann nicht das Ziel einer gesunden Boden-
reform sein.
Literatur. D. Ricardo, Grundsätze der Volks-
wirtschaft (übers. von Baumstark, 1877); J. H.
v. Thünen, Der isolierte Staat (51875); E. Be-
rens, Versuch einer kritischen Dogmengesch, der G.
(1868); N. v. Schullern-Schrattenhofen, Unter-
suchungen über Begriff u. Wesen der G. (1889);
Th. Mithoff-Lexis, Art. „G.“ im Handwörterbuch
der Staatswissenschaften IV; Th. Mithoff-Schön-
berg, Die volkswirtschaftl. Verteilung, in Schön-