Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1601 
Kant einerseits ein Vernunftrecht entstanden, wel- 
ches die Realisierung eines reinen Rechtsstaates, 
abgesehen vom sinnlichen und geistigen Wohle der 
Gesamtheit, zum Ziele hat und anderseits eine 
kalte, gefühls= und liebeleere Vernunftmoral. 
Ein Hauptmangel der Kantschen Sittenlehre ist 
ferner der Formalismus ihres Prinzips und 
ihrer Methode. Die Maxime des einzelnen soll 
formal so beschaffen sein kraft eines synthetischen 
Grundsatzes a priori, daß sie sich nicht wider- 
sprechen würde auf dem Gebiete der äußern Rechts- 
ordnung und der moralischen Ordnung, wenn sie 
die Maxime aller einzelnen würde. So wird das 
Prinzip des Nichtwiderspruches zum Prinzip der 
Sittenlehre Kants. „Ich könnte zwar“, sagt er, 
„die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz, zu lügen, 
gar nicht wollen; denn nach einem solchen würde 
es eigentlich gar kein Versprechen geben, weil. 
meine Maxime, sobald sie zum allgemeinen Gesetze 
gemacht würde, sich selbst zerstören“ und sich not- 
wendig „widersprechen“ müßte (Werke IV 403, 
422). Ebenso würde die Ableugnung eines De- 
positums „als Geset sich selbst vernichten, weil es 
machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe. 
Ein praktisches Gesetz, das ich dafür erkenne, muß 
sich zur allgemeinen Gesetzgebung gqualifizieren; 
dies ist ein identischer Satz und also für sich klar“ 
(Werke V. 27). 
In Wahrheit ist jedoch dieses Prinzip der for- 
malen Identität oder des Nichtwiderspruchs ein 
völlig inhaltsleeres Prinzip, dem aller mögliche 
Inhalt sich unterlegen läßt; denn wenn z. B. auch 
Lüge, Verleugnung des Depositums, Diebstahl, 
Mord die Maxime aller einzelnen sein würde, so 
wäre beziehungsweise jedes, was es ist. Offenbar 
hat Kant dem Prinzip der Identität oder des 
Nichtwiderspruchs das stillschweigend aufgenom- 
mene und vorausgesetzte Prinzip der idealen Über- 
einstimmung der Einzelwillen in einem Allgemein= 
willen oder das Prinzip der allgemeinen Willens- 
harmonie unterschoben. Auch dieses Prinzip faßt 
er aber rein formalistisch auf, und zwar in sehr 
nominalistischem Sinne. Der Allgemein- 
wille gilt ihm nur als Kollektivwille, als Sammel- 
wille; die Menschheit ist ihm kein sittlicher Orga- 
nismus, sondern eine Summe von Völkern und 
Individuen unter sittlichen Gesetzen. Die Familie 
ist eine Gesellschaft freier Wesen mit dinglich-per- 
sönlichen Rechten; der Staat ist „die Vereinigung 
einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ 
(Rechtslehre §§ 22, 45; Werke VI 276. 313) usw. 
Die nominalistische Verflüchtigung und Atomi- 
sierung all dieser Lebensordnungen, wie sie durch 
Hobbes, Locke, Rousseau herrschend gemacht wurde, 
wzeigt sich hier noch in voller Herrschaft. Wie der 
Raturphilosophische Dynamismus Kants, so ist 
auch dessen ethischer Atomismus noch nicht zu 
einem innern Teleologismus hindurchgedrungen 
im Sinne organischer Weltauffassung. 
Endlich ist auch die Ableitung der materialen 
Pflichten aus dem obersten Formalprinzip eine 
Staatslexiton. II. 3. Aufl. 
Kant. 
  
1602 
bloß formalistische. Am Faden des Identitäts- 
gesetzes laufend und verlaufend will sie aus dem- 
selben als höchstem Grundsatze alle Sätze der 
Rechts= und Tugendlehre deduzieren und auf solche 
Weise ein reines System des Vernunftrechts und 
der Vernunftmoral a priori herstellen, abgesehen 
von allen empirischen Raum= und Zeitbedingungen. 
In Wahrheitwerdenjedoch die Rechts-und Tugend- 
ideale anderweitig ausgenommen, in das voraus- 
gesetzte Prinzip schablonenmäßig hereingenommen 
und mit der Würde der Universalität geschmückt, 
während sie oft nur Anschauungen sind, wie sie 
unter dem Einflusse von Zeitereignissen oder auf 
positive Studien hin im Geiste Kants sich gebildet 
hatten. Der Bau seiner philosophischen Rechts- 
und Tugendlehre ist somit nur zu oft ein Gerüste 
logischer Scheindeduktionen. 
Von der Grundlegung der Metaphysik der Sitten 
möge sich die Kritik nun wenden zur philo- 
sophischen Rechtslehre Kants, die mit der 
philosophischen Tugendlehre(Sittenlehreimengeren 
Sinne) die Metaphysik der Sitten ausmacht. Sie 
ist Naturrechtslehre im Sinne der seit Hugo Gro- 
tius herrschend gewordenen Richtung; sie will aber 
das Naturrecht rein a priori konstruieren aus der 
Idee der äußeren Freiheit, abgesehen von allen 
realen Grundlagen des Rechts= und Staatslebens 
und dessen geschichtlicher Entwicklung. Dieses 
Naturrecht ist einerseits unterschieden von der 
reinen Vernunftmoral, anderseits vom positiven 
Recht. Von ersterer ist es dadurch unterschieden, 
daß es ein System äußerlich erzwingbarer Rechte 
ist. Hat aber Kant irgendwie nachgewiesen, daß 
mit all denjenigen moralischen Rechten, welche 
physisch erzwungen werden können, auch das mo- 
ralische Recht verknüpft sei, daß sie physisch er- 
zwungen werden dürfen? Hat er die Berechtigung 
dieses synthetischen Urteils aus dem von ihm voraus- 
gesetzten kategorischen Imperativ erwiesen? Hat er 
die Natur der Zwangsrechte deduziert? Das kann, 
wie schon J. G. Fichte (s. d. Art.) darzulegen 
suchte, nicht behauptet werden. 
Vom positiven Rechte ist das Naturrecht 
dadurch unterschieden, daß es schon Geltung hat 
vor aller positiven Aussprache und Sanktion, und 
für alle menschlichen Rechtssatzungen normative 
Bedeutung und Währung besitzt. Anstatt jedoch 
zur Anerkennung zu bringen, daß ein derartiges 
Idealrecht rein als solches nur auf grundwesent- 
liche Bestimmungen sich zu beschränken habe, um 
seine weitere konkrete Füllung und Erfüllung und 
Präzisierung durch das je nach Umständen sehr 
verschiedene historische Recht (Gewohnheits= und 
Gesetzesrecht) zu erhalten, hat Kant gleich den 
früheren Naturrechtslehrern demselben vielfach ein 
Phantasierecht unterschoben, wie es unter den 
Einflüssen der Zeitverhältnisse sich in ihm aus- 
gebildet hatte, und so nächst I. G. Fichte, dessen 
„Grundlage des Naturrechts“ nahezu gleichzeitig 
mit seiner Rechtslehre erschien, wesentlich zu dem 
Mißkredit beigetragen, in welchen alsbald die 
51
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.