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Naturrechtslehre überhaupt verfiel, dies um so
mehr, als er auch seinerseits noch (im Anklang
an die alten Naturrechtstheorien, wie sie seit
Hobbes aufgetreten waren) einen privatrechtlichen
Naturzustand annimmt vor der Abschließung des
Staatsvertrages und vor dem Eintreten des durch
letzteren begründeten Staates.
So war es denn erklärlich, daß durch Hegel
und die Vertreter der historischen Rechtsschule
(Savigny, Puchta, Stahl usw.) ein der Posi-
tivität entbehrendes Naturrecht für eine Chimäre
ausgegeben wurde, ja für eine Chimäre, die mit
ihren Phantasien von „Menschenrechten“ allen
möglichen Umsturzplänen Vorschub leisten könne,
und daß infolgedessen alsdann der Rechtsphilo-
sophie der Beruf zugewiesen wurde, nicht mehr im
Sinne der alten Naturrechtslehre von Idealrecht
und Idealstaat zu reden, sondern nur das positive,
wirkliche Recht und den wirklichen Staat und
deren geschichtliche Entwicklung zu begreifen. Hat
sich die Naturrechtslehre Kants in das Extrem
einer zu weit gehenden Rationalisierung des Rechts
verlaufen, so diese positivistische Schule in eine
zu weit gehende Historisierung desselben. Nur
dadurch, daß das Naturrecht mehr auf eine all-
gemeine Prinzipienlehre zurückgeführt wird, wie
sie in ihren Grundzügen schon durch die aristo-
telische Scholastik vorgezeichnet worden, und zu-
gleich deren mannigfaltige Anwendungsfähigkeit
aufgezeigt wird mit Zuhilfenahme der durch die
moderne Rechts= und Staatswissenschaft gebotenen
historischen Mittel, kann Heil für die Rechtsphilo-
sophie erblühen.
Nach Hugo Grotius (De jure belli et pacis
1. 2, c. 2, n. 2), Hobbes (De cive c. 6,
n. 15), Samuel Pufendorf (De jure naturae
I. 4, c. 4, § 4), Montesquien (De T’esprit des
lois I. 26, ch. 15) und JI. G. Fichte (Werke III
(1845/461195/197) stammt das Recht des Eigen-
tums aus einem auedrücklichen oder stillschweigen-
den Vertrage, nach Kant dagegen entsteht es durch
Okkupation vor allem und jedem Vertrage, ins-
besondere dem Staats vertrage. Vermittelst des
letzteren wird „jedem das Seine nur gesichert,
eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt“;
statt des provisorisch = rechtlichen Charakters ge-
winnt es durch den vereinigten Willen, die ver-
einigte Macht aller nur einen gesicherten und in
diesem Sinne peremtorischen Charakter (Rechts-
lehre §9; Werke VI1 256/257). Auch der freie
Vertrag Einzelner gewinnt seine verbindliche Kraft
nach Kant nicht erst durch den Staatsvertrag,
folglich auch nicht die Ehe. Alle diese Privat-
rechte (das Eigentums-, Vertrags= und Familien-
recht) gewinnen durch das öffentliche Recht des
Staates nur eine Sicherung, keine inhaltliche Ver-
vollkommnung; die „Materie“ bleibt die gleiche
(Rechtslehre § 41; Werke VI 300).
Diese Grundanschauungen Kants verdienen in
gewisser Beziehung vollste Billigung. Die per-
önlichen Urrechte des Menschen verdanken ihren
Kant.
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Ursprungsicherlich nicht dem Staatswillen. Ebenso-
wenig das Eigentum seiner letzten Wurzel nach;
es gründet insofern teils im Naturgesetz, welches
befiehlt, daß die Menschen friedlich leben sollen,
teils in der Tatsache, daß sie, wie sie nun einmal
sind, ohne Sondereigentum nicht friedlich leben
würden (Thomas, Summa theol. 2, 2, d. 66,
a. 2). Auch das Vertragsrecht der Einzelnen und
das Familienrecht wurzeln nicht schlechthin im
Staatswillen. Kant hat insoweit mit vollstem
Grunde der Lehre von der Omnipotenz des Staates
als Urquell aller Rechte vorgebaut.
Nach verschiedenen andern Richtungen hin hat
er indessen die rechtliche Macht und Bedeutung des
Staates nicht richtig gewürdigt. Zu gering hat
er sie angeschlagen zunächst insofern, als er dem
Staate nur die Sicherung aller Privatrechte zu-
wies. Als ob sie ohne ihn ihre Feststellung oder
Präzisierung ins einzelne hinein gefunden hätten
und finden könnten!
Dadurch ferner, daß dem Staate der Beruf zu-
gesprochen wird, nur für die Privatrechte eine
Sicherung zu bieten im Interesse der allgemeinen
Freiheit, ist ihm der Charakter eines reinen Rechts-
staates zugesprochen. Durch Kant hat diese, auch
durch Wilhelm v. Humboldt sowie durch Fichte
in seiner ersten Periode (s. Art. Fichte) vertretene
Definition des Staates als eines bloßen Rechts-
institutes damals allgemeine Verbreitung gefunden.
Die Auffassung des Staates als eines Rechts-
institutes soll dabei natürlich nicht die administra-
tive Willkür, die nicht an das Gesetz gebundene
Kabinettsjustiz, ausschließen, sondern ist im Sinne
einer Beschränkung der Staatsaufgabe gemeint.
So erklärlich diese Auffassung auch als Reaktion
des Freiheitsgefühls gegen die alles regierende
Bevormundung des absolutistischen oder auch —
im revolutionären Frankreich — demokratischen
Polizeistaates war, so ist sie doch viel zu eng. Der
Satz: Salus publica suprema civitatis lex
est, soll bei Kant zwar in seinem unverminderten
Wertund Ansehen belassen werden, doch in welchem
Sinne? Das öffentliche Heil soll nur diejenige
gesetzliche Verfassung sein, die „jedem seine Frei-
heit durch Gesetze sichert, wobei es ihm unbenom-
men bleibt, seine Glückseligkeit auf jedem Wege,
welcher ihm der beste dünkt, zu suchen, wenn er
nur nicht jener allgemeinen Freiheit, mithin dem
Rechte anderer Mitmenschen, Abbruch tut. Wenn
die oberste Macht Gesetze gibt, die zunächst auf
die Glückseligkeit (die Wohlhabenheit der Bürger,
der Bevölkerung usw.) gerichtet sind, so geschieht
dieses nicht als Zweck der Errichtung einer bürger-
lichen Verfassung, sondern als Mittel, den recht-
lichen Zustand, vornehmlich gegen äußere Feinde,
zusichern“ („Über den Gemeinspruch“ usw., Rosen-
kranz u. Schubert VII. 209). Ein solcher Staat
hätte in keinerlei Weise für das leibliche und geistige
Volkswohl als solches zu sorgen; das reine Man-
chestertum und absolute Unterrichts= und Schul-
freiheit, ohne daß der Staat irgendwie um die