Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1603 
Naturrechtslehre überhaupt verfiel, dies um so 
mehr, als er auch seinerseits noch (im Anklang 
an die alten Naturrechtstheorien, wie sie seit 
Hobbes aufgetreten waren) einen privatrechtlichen 
Naturzustand annimmt vor der Abschließung des 
Staatsvertrages und vor dem Eintreten des durch 
letzteren begründeten Staates. 
So war es denn erklärlich, daß durch Hegel 
und die Vertreter der historischen Rechtsschule 
(Savigny, Puchta, Stahl usw.) ein der Posi- 
tivität entbehrendes Naturrecht für eine Chimäre 
ausgegeben wurde, ja für eine Chimäre, die mit 
ihren Phantasien von „Menschenrechten“ allen 
möglichen Umsturzplänen Vorschub leisten könne, 
und daß infolgedessen alsdann der Rechtsphilo- 
sophie der Beruf zugewiesen wurde, nicht mehr im 
Sinne der alten Naturrechtslehre von Idealrecht 
und Idealstaat zu reden, sondern nur das positive, 
wirkliche Recht und den wirklichen Staat und 
deren geschichtliche Entwicklung zu begreifen. Hat 
sich die Naturrechtslehre Kants in das Extrem 
einer zu weit gehenden Rationalisierung des Rechts 
verlaufen, so diese positivistische Schule in eine 
zu weit gehende Historisierung desselben. Nur 
dadurch, daß das Naturrecht mehr auf eine all- 
gemeine Prinzipienlehre zurückgeführt wird, wie 
sie in ihren Grundzügen schon durch die aristo- 
telische Scholastik vorgezeichnet worden, und zu- 
gleich deren mannigfaltige Anwendungsfähigkeit 
aufgezeigt wird mit Zuhilfenahme der durch die 
moderne Rechts= und Staatswissenschaft gebotenen 
historischen Mittel, kann Heil für die Rechtsphilo- 
sophie erblühen. 
Nach Hugo Grotius (De jure belli et pacis 
1. 2, c. 2, n. 2), Hobbes (De cive c. 6, 
n. 15), Samuel Pufendorf (De jure naturae 
I. 4, c. 4, § 4), Montesquien (De T’esprit des 
lois I. 26, ch. 15) und JI. G. Fichte (Werke III 
(1845/461195/197) stammt das Recht des Eigen- 
tums aus einem auedrücklichen oder stillschweigen- 
den Vertrage, nach Kant dagegen entsteht es durch 
Okkupation vor allem und jedem Vertrage, ins- 
besondere dem Staats vertrage. Vermittelst des 
letzteren wird „jedem das Seine nur gesichert, 
eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt“; 
statt des provisorisch = rechtlichen Charakters ge- 
winnt es durch den vereinigten Willen, die ver- 
einigte Macht aller nur einen gesicherten und in 
diesem Sinne peremtorischen Charakter (Rechts- 
lehre §9; Werke VI1 256/257). Auch der freie 
Vertrag Einzelner gewinnt seine verbindliche Kraft 
nach Kant nicht erst durch den Staatsvertrag, 
folglich auch nicht die Ehe. Alle diese Privat- 
rechte (das Eigentums-, Vertrags= und Familien- 
recht) gewinnen durch das öffentliche Recht des 
Staates nur eine Sicherung, keine inhaltliche Ver- 
vollkommnung; die „Materie“ bleibt die gleiche 
(Rechtslehre § 41; Werke VI 300). 
Diese Grundanschauungen Kants verdienen in 
gewisser Beziehung vollste Billigung. Die per- 
önlichen Urrechte des Menschen verdanken ihren 
Kant. 
  
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Ursprungsicherlich nicht dem Staatswillen. Ebenso- 
wenig das Eigentum seiner letzten Wurzel nach; 
es gründet insofern teils im Naturgesetz, welches 
befiehlt, daß die Menschen friedlich leben sollen, 
teils in der Tatsache, daß sie, wie sie nun einmal 
sind, ohne Sondereigentum nicht friedlich leben 
würden (Thomas, Summa theol. 2, 2, d. 66, 
a. 2). Auch das Vertragsrecht der Einzelnen und 
das Familienrecht wurzeln nicht schlechthin im 
Staatswillen. Kant hat insoweit mit vollstem 
Grunde der Lehre von der Omnipotenz des Staates 
als Urquell aller Rechte vorgebaut. 
Nach verschiedenen andern Richtungen hin hat 
er indessen die rechtliche Macht und Bedeutung des 
Staates nicht richtig gewürdigt. Zu gering hat 
er sie angeschlagen zunächst insofern, als er dem 
Staate nur die Sicherung aller Privatrechte zu- 
wies. Als ob sie ohne ihn ihre Feststellung oder 
Präzisierung ins einzelne hinein gefunden hätten 
und finden könnten! 
Dadurch ferner, daß dem Staate der Beruf zu- 
gesprochen wird, nur für die Privatrechte eine 
Sicherung zu bieten im Interesse der allgemeinen 
Freiheit, ist ihm der Charakter eines reinen Rechts- 
staates zugesprochen. Durch Kant hat diese, auch 
durch Wilhelm v. Humboldt sowie durch Fichte 
in seiner ersten Periode (s. Art. Fichte) vertretene 
Definition des Staates als eines bloßen Rechts- 
institutes damals allgemeine Verbreitung gefunden. 
Die Auffassung des Staates als eines Rechts- 
institutes soll dabei natürlich nicht die administra- 
tive Willkür, die nicht an das Gesetz gebundene 
Kabinettsjustiz, ausschließen, sondern ist im Sinne 
einer Beschränkung der Staatsaufgabe gemeint. 
So erklärlich diese Auffassung auch als Reaktion 
des Freiheitsgefühls gegen die alles regierende 
Bevormundung des absolutistischen oder auch — 
im revolutionären Frankreich — demokratischen 
Polizeistaates war, so ist sie doch viel zu eng. Der 
Satz: Salus publica suprema civitatis lex 
est, soll bei Kant zwar in seinem unverminderten 
Wertund Ansehen belassen werden, doch in welchem 
Sinne? Das öffentliche Heil soll nur diejenige 
gesetzliche Verfassung sein, die „jedem seine Frei- 
heit durch Gesetze sichert, wobei es ihm unbenom- 
men bleibt, seine Glückseligkeit auf jedem Wege, 
welcher ihm der beste dünkt, zu suchen, wenn er 
nur nicht jener allgemeinen Freiheit, mithin dem 
Rechte anderer Mitmenschen, Abbruch tut. Wenn 
die oberste Macht Gesetze gibt, die zunächst auf 
die Glückseligkeit (die Wohlhabenheit der Bürger, 
der Bevölkerung usw.) gerichtet sind, so geschieht 
dieses nicht als Zweck der Errichtung einer bürger- 
lichen Verfassung, sondern als Mittel, den recht- 
lichen Zustand, vornehmlich gegen äußere Feinde, 
zusichern“ („Über den Gemeinspruch“ usw., Rosen- 
kranz u. Schubert VII. 209). Ein solcher Staat 
hätte in keinerlei Weise für das leibliche und geistige 
Volkswohl als solches zu sorgen; das reine Man- 
chestertum und absolute Unterrichts= und Schul- 
freiheit, ohne daß der Staat irgendwie um die
	        
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