Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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29. Juni 1869 eine neue Verfassung an Stelle der 
von 1838 (mit allgemeinem Wahlrecht, aber Aus- 
schluß der Beamten, Advokaten und Professoren aus 
der Kammer, die zu einem Drittel vom Fürsten 
ernannt wurde). Die zwei Kriege gegen die Türkei 
1876/77 brachten für Serbien auf dem Berliner 
Kongreß 1878 die Anerkennung seiner Unab- 
hängigkeit und eine Vergrößerung um 11000 qkm, 
vor allem dank der Unterstützung Osterreichs, wo- 
für Serbien Zugeständnisse in der Handelspolitik 
machen mußte. Milan, der 6. März 1882 den 
Königstitel annahm, stützte sich auch fernerhin auf 
Osterreich; diesem verdankte es Serbien, daß es 
aus dem leichtfertig begonnenen und schlecht ge- 
führten Krieg mit Bulgarien (1885/86) ohne Ge- 
bietsverluste davonkam. Er verfeindete sich dadurch 
mit seinem Volk, indem die neue russenfreundliche 
Partei der Radikalen immer mehr Anhang ge- 
wann und die Stimmung gegen Osterreich seit der 
Besetzung Bosniens sehr erbittert war. Auch seine 
Ehescheidung 1888 schadete seinem Ansehen sehr. 
1888 wurde die liberale Partei, auf die er und 
Ristie sich gestützt hatten, von den Radikalen voll- 
ständig geschlagen, und 2. Jan. 1889 mußte er 
eine neue demokratische Verfassung (erweitertes 
Wahlrecht, Preß= und Versammlungsfreiheit) 
geben. Unter Milan wurde 1882 (lex Novakovic) 
die allgemeine Schul- und (1886) Wehrpflicht 
eingeführt. 
Am 6. März 1889 dankte Milan ab. Für 
seinen Sohn Alexander führte wieder Ristié die 
Regentschaft. 1893 erklärte sich Alexander, da- 
mals 16jährig, durch einen Staatsstreich für voll- 
jährig. Milan kehrte 1894 zurück, und obwohl er 
1892 auf die serbische Staatsangehörigkeit ver- 
zichtet hatte, nahm er die Leitung der Regierung 
und 1897 das Oberkommando über das Heer 
wieder an sich. Durch einen zweiten Staatsstreich 
1894 wurde die Verfassung von 1869 wieder- 
hergestellt, 1898 die konstitutionellen Freiheiten und 
das Wahlrecht wieder eingeschränkt, die gebildeten 
Stände von der Kammer ausgeschlossen. Als der 
geistig nicht normale Alexander 1900 eine schlecht 
beleumundete Witwe, Draga Maschin, heiratete, 
brach Milan mit ihm und verließ das Land. Zwei 
neue Staatsstreiche, welche die Verfassung änderten, 
und der Plan, einen Bruder Dragas zum Thron- 
erben zu machen, führten schließlich zur Katastrophe. 
In der Nacht auf den 11. Juni 1903 fielen 
Alexander, als Letzter des Hauses Obrenowitsch, 
Draga und drei Minister einer Offiziersverschwö- 
rung zum Opfer. Das Heer rief am 12. Peter 
Karageorgewitsch, den Sohn des früheren Fürsten 
Alexander, zum König aus; die Kammern be- 
stätigten die Wahl am 15., nachdem sie die Ver- 
fassung von 1889 wiederhergestellt hatten. 
Die Stellung der neuen Dynastie ist immer 
noch sehr unsicher. König Peter konnte sich erst 
1906 der Königsmörder entledigen. Es wurde 
von Anfang an vermutet und seither auch erwiesen, 
daß er von der Verschwörung gegen seinen Vor- 
Serbien. 
  
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gänger Kenntnis hatte, und die Mächte ließen es 
deshalb längere Zeit anstehen, bis sie mit Serbien 
die diplomatischen Beziehungen wiederherstellten. 
Das Verhältnis zu Osterreich verschlechterte sich 
durch die besonders vom Slowenski Jug („Sla- 
wischer Süden“) gepflegte und von der Regierung 
begünstigte großserbische Agitation, die sich nicht 
mehr auf die Kirchen= und Schulpropaganda in 
Altserbien und Mazedonien beschränkte, sondern 
auch in Bosnien, Kroatien und Dalmatien um 
sich griff. 1906 lief der Handelsvertrag mit Oster- 
reich ab, und es kam zu einem zweijährigen Zoll- 
krieg, welcher dem auf die Ausfuhr nach Osterreich 
angewiesenen Staat schwer schadete. Febr. 1908 
wurde der Handelsvertrag erneuert; dafür erhitzte 
die Ankündigung der Sandschakbahn die Gemüter 
in Serbien. Als vollends Osterreich im Okt. 1908 
Bosnien und Hercegovina einverleibte, ein stamm- 
verwandtes Land, auf das Serbien selbst ein mo- 
ralisches Anrecht zu haben glaubte, protestierte die 
serbische Regierung gegen den Bruch des Berliner 
Vertrags, verbündete sich mit Montenegro, rüstete 
und verlangte von Osterreich, durch eine russische 
Note und im geheimen auch durch England er- 
mutigt, eine territoriale Verbindung mit Monte- 
negro und der Adria. Im Frühjahr 1909 war 
die Spannung so gewachsen, daß ein Krieg drohte. 
Doch mußte Serbien, als Rußland auf Drängen 
Deutschlands seine Haltung änderte, nachgeben 
und in einer Note an die Mächte vom 10. März 
die Annexion unter Verzicht auf territoriale 
Kompensationen anerkennen, in einer Note an 
Osterreich vom 30. März außerdem den Wunsch 
nach freundlichen Beziehungen ausdrücken und 
Abrüstung versprechen. Gleichzeitig mußte der 
Kronprinz Georg, der beim Heer zum Krieg ge- 
hetzt hatte, aber sonst unmöglich geworden war, 
zugunsten seines Bruders Alexander auf die Thron- 
folge verzichten. — Am Ruder sind seit Milans 
Rücktritt meist die Radikalen (russenfreundlich, 
Bauernpartei, Führer Pasie). 1901 trennte sich 
von ihnen eine jungradikale Gruppe, die aber 
jetzt wieder mit den Altradikalen verbündet ist. 
Ebenso sind die beiden andern Parteien, Natio- 
nalisten oder Progressisten und Liberale, gegen- 
wärtig verbündet. 
II. Fläche und Bevölkerung. Der Flächen- 
inhalt des Landes beträgt 48 308 qkm, die Be- 
völkerung am 31. Dez. 1908: 2824 844 Einw. 
(59 auf 1 qkm). Von der Bevölkerung zu Ende 
des Jahrs 1900 (2 492 882 Seelen) lebten nur 
351.015 Personen (14% ) in den 85 Städten, 
die größtenteils auch ländlichen Charakter tragen; 
2468 602 waren serbische Untertanen, 24 280 
Fremde (14 419 Ungarn, 5909 Türken, 1848 
Osterreicher). Muttersprache war Ende 1900 
für 2331107 Personen das Serbische, für 89873 
das Rumänische, für 7494 das Deutsche, für 
2151 das Albanesische, für 1956 das Magya- 
rische usw.; von den 5729 Juden sprachen 1544 
spanisch, 2636 eine flawische Sprache, von den
	        
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