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des Produkts repräsentiert also nur die Summe
bereits existierender Werte. Das Interesse der
Landwirtschaft muß darum im Gegensatz zur be-
stehenden Politik das Ausschlaggebende und Ent-
scheidende sein. Aus dieser Auffassung ergibt sich
die soziale Gliederung des royaume agri-
cole. Als produktiv gilt nur, wer wirtschaftliche,
d. h. neue materielle Werte schafft; die andern
Klassen sind steril. Näherhin werden drei Klassen
unterschieden:
a)aDie produktive Klasse; sie bebaut den Grund
und Boden; dazu hat sie die nötigen Vorschüsse
zu leisten; sie muß an die Grundbesitzer die Renten
bezahlen.
b) Ebendiese Grundbesitzer (von Turgot classe
disponible genannt) bilden die zweite Klasse. Sie
empfängt den produit net aus der Hand der
produktiven Klasse, die ihre Vorschüsse und den
Ersatz der Abnutzung ihres stehenden Kapitals
zurückbehält.
e) Die unproduktive („sterile“) Klasse um-
schließt alle, die andere als landwirtschaftliche
Arbeiten und Dienste leisten. Zu diesen 3 Klassen
gehören nur die Unternehmer und Besitzer; die
besitzlosen Arbeiter bilden keine selbständige Klasse.
Turgot nennt als zweite Klasse die classe stipen-
dice (d. h. diejenigen, die Rohstoffe verarbeiten,
die Industriellen und Handwerker) und als dritte
Klasse die erwähnte classe disponible (d. h.
Grundbesitzer, Rentiers und Beamte).
Auf dem Gebiet des Handels entspricht die
freie Konkurrenz dem ordre naturel. Dadurch
wird nämlich erzielt, daß die Warenpreise niedrig
stehen und daß insbesondere die Gewinne der
Zwischenhändler, deren Tätigkeit da, wo sie un-
nötig wäre, als unnatürlich, wo sie nicht entbehrt
werden kann, als notwendiges Übel erscheint, nur
eine geringe Höhe erreichen. Denn eigentlich sollte
sich der Güterverkehr zwischen dem ersten Verkäufer
und dem Konsumenten vollziehen und jener sollte
den Preis erhalten, den dieser bezahlt. Zwischen
beide drängt sich aber der Zwischenhändler, der
dort möglichst wenig bezahlen, hier möglichst viel
herausschlagen will. Allzu großer Gewinn der
Kaufleute ist stets ein Zeichen, daß der Handel
auf Kosten anderer Wirtschaftszweige bevorzugt
wird; eine ähnliche Ursache liegt dann zugrunde,
wenn der Kaufmann großen Gewinn angeblich
aus dem internationalen Verkehr zieht; bei näherer
Prüfung wird man finden, daß in seinem eignen
Land Handelsprivilegien vorhanden sind und daß
darin die Quelle seiner Reichtümer zu suchen ist.
Die Lehre von der Handelsbilanz beruht auf irr-
tümlichen Voraussetzungen.
Große Wichtigkeit im Gefüge des ganzen Sy-
stems kommt der Preislehre und Preispolitik
zu. Wie nicht anders zu erwarten, steht auch hier
das landwirtschaftliche Interesse im Mittelpunkt.
Was die Blüte des nationalen Wohlstands garan-
tiert, sind, kurz gesagt, dauernd hohe Preise für
landwirtschaftliche Produkte. Als Begründung
Physiokraten.
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wird angeführt, daß der Bauer so in die Lage
versetzt sei, seinen Betrieb zweckentsprechend ein-
zurichten, einen hohen produit net zu erzielen und
an den Grundbesitzer abzuliefern; auch Industrie
und arbeitende Klasse haben davon ihren Nutzen.
Die für die Zinslehre maßgebenden Grund-
sätze ergeben und begreifen sich unschwer, wenn
man im Auge behält, daß die natürliche Basis für
den Zins der Reinertrag des Bodens ist. Der
Zins soll sich nämlich nur daraus erklären, daß
man dafür ein Reinertrag bringendes Grundstück
erwerben kann. Besteht daher zwischen Reinertrag
und Zins eine wesentliche Verschiedenheit zu un-
gunsten des ersteren, so ist das ein unnatürlicher
und ungesunder Zustand.
3. Für die Besteuerung ergibt sich aus der
eigentümlichen Auffassung von der allein produk-
tiven landwirtschaftlichen Tätigkeit eine wichtige
praktische Konsequenz. Erzeugt nur der Boden
produit net, so wird auch die Steuerlast gerechter-
weise darauf gelegt. Freilich scheint so die acker-
baufreundliche Tendenz des Systems ins Gegenteil
umzuschlagen; allein dies ist angeblich nur Schein;
denn schon bisher hat der Grundbesitz tatsächlich
die ganze Steuerlast getragen, und zwar diese noch
vermehrt um die Unkosten, die durch die indirekten
zu einem Teil von rücksichtslosen Steuerpächtern
eingezogenen Steuern verursacht worden waren;
die Steuern auf Löhne. Waren, die Vermögens-
steuer der Pächter, alle diese Abgaben seien auf
den Grundbesitzer abgewälzt worden. Die fortan
allein noch zu erhebende und den Bodenreinertrag
erfassende Steuer soll so gestaltet werden, daß sie
dem Nationaleinkommen proportional ist.
4. Charakteristische Anschauungen enthält schließ-
lich die Bevölkerungslehre. Das niedere
Volk (peuple bas) wird zwar nicht als eigne und
eigentliche Klasse, immerhin aber doch vom Ge-
sichtspunkt des nationalen Wohlstands aus als
unentbehrlich angesehen wegen der Arbeit, die es
zu leisten hat, und wegen der Konsumtion. Ques-
nay spricht sich unwillig über die Ansicht aus, daß
das niedrige Volk in Armut und Unwissenheit zu
erhalten sei; er weiß aber wirksame sozialpolitische
Mittel, es zu heben, nicht anzugeben. Die Be-
völkerung hat die Tendenz, den durch das natür-
liche Bedürfnis gewährten Spielraum zu über-
schreiten. Die einzig richtige Bevölkerungspflege
richtet darum ihr Absehen auf Hebung des natio-
nalen Wohlstands; dieser aber kann nur durch
Erhöhung des Reinertrags der Landwirtschaft ge-
steigert werden, während die künstliche Förderung
von Handel und Gewerbe die Landbevölkerung in
die Städte trieb. Um jedoch einer zu starken Volks-
vermehrung vorzubeugen, ist das Heiratsalter zu
regeln; hat sich die Gefahr bereits eingestellt, so
empfiehlt sich als geeignetste Abhilfe die Koloni-
sation in fremden, wenig bevölkerten Ländern.
Was endlich den Lohn betrifft, so pflegt er dem
jeweiligen Unterhaltsbedürfnis zu entsprechen; er
gravitiert nach der Preishöhe der Nahrungsmittel.