Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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sittlichen Entwicklung eines Volks. Je weiter es 
in dieser Hinsicht fortgeschritten ist, desto mehr 
wird die Einsicht in die Staatsnotwendigkeiten 
den Widerwillen des Volks zurückdrängen. Das 
zweite Bedenken wird zum größten Teil beseitigt 
durch die Wirksamkeit der Parlamente in den 
konstitutionellen Staaten, die eine Uberspannung 
der Steuersätze hintan halten können. Wichtig 
dagegen ist der dritte Einwand. Die Defrau- 
dationsmöglichkeiten sind besonders bei den Per- 
sonalsteuern vorhanden, in viel höherem Grad 
als bei den Realsteuern. Es ist deshalb Aufgabe 
der Steuerpraxis, nach Möglichkeit den Hinter- 
ziehungsversuchen entgegenzuarbeiten durch Kon- 
trollmaßregeln, Steuerstrafen us. Weit mehr 
als diese Mittel aber wirkt das Erstarken der 
Steuermoral, des staatsbürgerlichen Gewissens. 
Von den modernen Personalsteuern sind wichtig 
die Einkommen= und Vermögenssteuer. Die 
älteren Personalsteuern hatten eine rohe Gestalt 
und unsozialen Charakter. Es sind dies die Kopf- 
steuer und verwandte Steuerformen. 
Die Kopfsteuer. Hier wird eine Unterschei- 
dung nach Einkommensgrößen nicht gemacht. Jede 
Einzelperson ist mit dem gleichen Betrag steuer- 
pflichtig. Doch ist dieses Prinzip nicht allgemein. 
Es kommt vor, daß Kinder bis zu einem gewissen 
Alter, Greise und Frauen sowie einzelne Privile- 
gierte steuerfrei sind. Auf niederer Wirtschaftsstufe 
werden wegen der großen Gleichförmigkeit der 
Besitz= und Einkommensverhältnisse die Ungerech- 
tigkeiten dieser Steuerform nicht so sehr empfunden; 
bei stärkerer wirtschaftlicher Differenzierung aber 
wird diese rohe Besteuerungsform bald drückend 
und unzureichend. 
In früheren Zeiten hatten die meisten Länder 
solche Kopfsteuern, die entweder regelmäßig er- 
hoben wurden oder als außerordentliche Abgaben 
in Zeiten besonderer Not (Kriegssteuern). Als 
Kriegssteuer erhielt sich die Kopfsteuer vereinzelt 
bis ins 19. Jahrh. Als ordentliche Steuer aber 
verschwand sie seit dem 16. und 17. Jahrh. in 
den meisten europäischen Staaten. Dagegen be- 
stand sie in Rußland weiter. Sie wurde dort auf- 
erlegt nach „Revisionsseelen“. Nach Maßgabe der 
bei den einzelnen Volkszählungen ermittelten Ein- 
wohnerzahl wurden die Steuerkontingente für die 
einzelnen Gemeinden festgesetzt. Die Gemeinden 
selbst hatten dann dieses Kontingent auf die Ein- 
wohner zu verteilen nach dem Herkommen und 
nach der Größe des genutzten Gemeindelandes. 
Nachdem die Kopfsteuer zuletzt nur noch eine 
Besteuerung des Bauernstandes gewesen war, 
wurde sie 1885 für das europäische Rußland 
aufgehoben. 
In der Gegenwart bestehen noch Kopfsteuern 
im Orient und in einzelnen Kolonien. So erhebt 
Deutschland eine Kopfsteuer von der männlichen 
Bevölkerung (mit Ausnahme der Kinder) auf Sa- 
moa, Frankreich eine solche in Madagaskar, Da- 
homey u. dgl. 
Steuern. 
  
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Der Form nach mit den Kopfsteuern verwandt 
sind die Matrikularbeiträge und ähnliche Umlagen, 
die nach der Kopfzahl der Bevölkerung festgesetzt 
werden. So auch die Matrikularbeiträge des 
Deutschen Reichs. Doch besteht diese Verwandt- 
schaft lediglich der Form, nicht der Sache nach. 
Die Summen, welche die Einzelstaaten in Form 
von Matrikularbeiträgen an das Reich abführen 
müssen, werden zwar nach Maßgabe der Bevölke- 
rungszahl auferlegt, aber sie werden nicht von den 
einzelnen Untertanen erhoben, sondern aus den 
Staatseinkünften der einzelnen Teilstaaten ent- 
nommen. Diese Staatseinkünfte setzen sich dann 
zusammen aus Erwerbseinkünften, Gebühren, 
Steuern. Unter den sämtlichen Steuern der Einzel- 
staaten aber ist keine einzige Kopfsteuer. Darum 
ist die vielfach verbreitete Meinung, die Matrikular- 
beiträge hätten einen kopfsteuerartigen Charakter, 
vollkommen falsch. 
Dieroheren Formen der personalen Vermögens- 
steuer. In den früheren Jahrhunderten fanden sich 
vielfach Steuern, welche den Charakter von Per- 
sonalsteuern trugen und das Vermögen treffen 
sollten. Allerdings in primitiver Weise. So die 
Herdsteuer. Das Vermögen wurde nicht ge- 
schätzt; es wurde vielmehr aus der Tatsache des 
Besitzes einer Herdstelle auf das damit verbundene 
Haus und das sonstige Vermögen geschlossen. 
Unterschiede wurden vielfach überhaupt nicht ge- 
macht; der reiche Mann zahlte ebensoviel wie der 
Arme. Herdsteuer, Rauchpfennig, Rauchpfund, 
Heimstättengeld wurde die Steuer genannt. Sie 
war leicht durchführbar, aber sehr unsozial, ja 
drückend, sobald ein einigermaßen bedeutsamer 
Betrag herausgewirtschaftet werden sollte. Auch 
jene Steuern, die da anknüpften an Hufe und 
Haus und Viehbestand, sind hierher zu zählen 
(Hufenschoß, Giebelschoß, Viehsteuer). 
Einen wichtigeren Fortschritt stellen demgegen- 
über dar die abgestuften Personalsteuern. Statt 
der einheitlichen Steuersätze pro Kopf tritt jetzt 
eine Staffelung ein nach verschiedenen Gesichts- 
punkten, die wenigstens die gröbsten Ungerechtig- 
keiten der Kopfsteuer beseitigen soll. Es ist die 
Hinüberbildung von der Kopfsteuer zur Klassen- 
steuer. Bei der letzteren wird eine Klassifikation 
der ganzen Bevölkerung nach wirtschaftlichen Ge- 
sichtspunkten vorgenommen. Ein bekanntes Bei- 
spiel dieser Art ist die preußische Klassensteuer von 
1820/21. Sie bezweckte die Besteuerung des 
platten Landes. Es wurden vier Hauptstufen mit 
je drei Unterabteilungen gebildet. Die Klassen- 
sätze betrugen: 1. Klasse 144, 96, 48 Taler; 
2. Klasse 24, 18, 12 Taler; 3. Klasse 8, 6, 
4 Taler; 4. Klasse 3, 2, 1 1½ Taler. Im Jahr 
1851 wurde dann die Klassensteuer auf die 
Einkommen bis 3000 Jl beschränkt, die Sätze 
wurden verfeinert, die höheren Einkommen (über 
3000 M) aber der klassifizierten Einkommen- 
steuer unterstellt (ogl. d. Art. Einkommensteuer 
Bd I. Sp. 1495 ff.
	        
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