Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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hat. Er lehnt es ausdrücklich ab, auf die letzt- 
instanzlichen philosophischen Grundfragen über das 
Wesen des Eigentums einzugehen; ihn interessie- 
ren vor allem die Grenzlinien zwischen In- 
dividualwirtschaft und Gemeinwirtschaft, und diese 
Grenzen sind von konkreten Verhältnissen bedingt 
und demgemäß wechselnd. Weiterhin gesteht er 
ausdrücklich dem Individualismus den Charakter 
eines „Lebensprinzips“ für Gesellschaft und 
Volkswirtschaft zu (Gr. 18 754). Außerdem be- 
tont Wagner, der Staatssozialismus halte prin- 
zipiell fest an der „nur beschränkenden“ 
Reglung des Privateigentums an den Produk- 
tionsmitteln (Gr. 18 60). Dazu unterstreicht er 
bezüglich dieser beschränkenden Tätigkeit gegenüber 
dem Privateigentum immer wieder „die stete Be- 
rücksichtigung der mitspielenden psychischen Fak- 
toren“. Dies aber sind doch wohl jene unver- 
tilgbaren psychischen Veranlagungen des 
Individuums und des Familienlebens, die in ihrer 
normalen, naturgemäßen Auswirkung eine unaus- 
rottbare Tendenz zum Erwerb und zur Behaup- 
tung (einschließlich der freien Verfügung) von Pri- 
vateigentum besitzen. Wagner lehnt in seiner 
Rektoratsrede (1895) den marxistischen Sozialis-= 
mus ab, weil er alle Differenzierung und alle 
Kultur ertöten müsse, „es wäre denn, daß wir 
zuvor wesensandere“ Naturen geworden 
wären“ (S. 32). 
Freilich bleibt trotz alledem bei den Vertretern 
einer letztinstanzlich unwandelbaren naturrechtlichen 
Begründung der Gesellschaftslehre der Eindruck 
vorherrschend, daß in der wissenschaftlichen Theo- 
rie des Staatssozialismus die berührten wichtigen 
Stücke des gesellschaftlichen Fundaments (Eigen- 
tum, Erbrecht, Ablehnung der Staatsomnipotenz) 
nicht eindeutig und fest genug begründet seien, und 
weiterhin, daß in seiner politischen Praxis leicht 
zu weitgehende Staatsinterventionen Platz greifen 
können, nicht etwa bloß im Erwerbsleben, sondern 
auch in der Erziehung, im Familien= und son- 
stigen Privatleben nach seiner materiellen wie 
geistig-kulturellen Seite hin. So z. B. weist Frhr 
v. Hertling, der sich doch entschieden und entschei- 
dend in Theorie und Praxis für soziale Reform 
eingesetzt hat, auf die zu weitgehende Staatsinter= 
vention und die naheliegende Gefährdung des 
naturnotwendigen Faktors der Freiheit im Staats- 
Staatssozialismus. 
  
leben hin (Naturrecht und Sozialpolitik (1893) 
282 ff; Ziel und Methode der Rechtsphilosophie, 
im Philosophischen Jahrbuch der Görresgesellschaft 
(1895.), und zwar mit einer Schärfe, die begreif- 
lich erscheint in einer Zeit, wo eben erst das extrem- 
sozialistische Erfurter Programm ohne die Beglei- 
tung der mäßigenden revisionistischen Kritik in die 
Offentlichkeit getreten war, die Bezeichnungen 
„Staatssozialismus“ und „Nationalsozialismus“ 
in der politischen Praxis jugendfrisch erklangen 
und die relativ neue Sozialpolitik sich noch 
gegen die Vorwürfe verwahren mußte, als ob sie 
in ihrem Verlangen nach größerer Intensität und 
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Ausdehnung alle Schranken und Rücksichten ver- 
kenne. (Vgl. dazu auch Hitzes „Offenen Brief an 
Ad. Wagner“ 1883|, Gladbacher V. Z. Nr 134.) 
Wagners staatssozialistische Theorie berührt 
bzw. deckt sich naturgemäß in sehr vielen Punkten 
mit der in akademischen Vorlesungen wie auch in 
der Literatur mehr und mehr selbständig auf- 
tretenden wissenschaftlichen Sozialpolitik 
(ogl. Wasserrab, Soziale Frage, Sozialpolitik u. 
Charitas (/1903); G. v. Mayr, Begriff u. Glie- 
derung der Staatswissenschaften (11910|) und 
dem von Heinrich Pesch vertretenen Solidaris- 
mus (Lehrbuch der Nationalökonomie 1 (1905)), 
in Bezug auf seine praktischen Forderungen mit 
der praktischen Sozialpolitik im Pro- 
gramm und der Gesetzgebungsarbeit bürgerlicher 
Parteien. 
Ob es gelingen wird, der Bezeichnung und der 
Sache nach wissenschaftliche und praktische Sozial- 
politik durch Ad. Wagners Staatssozialismus ab- 
zulösen, wird sehr in Frage gestellt, selbst bei 
weiter gehender Abschwächung der sachlichen Diffe- 
renzen in den Grundanschauungen; einmal durch 
die Tatsache, daß das Wort Sozialismus fast 
ausschließlich verbunden ist mit dem Begriffs- 
inhalt des marxistischen Sozialismus bzw. der ihn 
politisch vertretenden Sozialdemokratie, sodann vor 
allem durch die weitere Tatsache, daß der Name 
Sozialpolitik in der Tat heute mehr als zur Zeit 
des Fürsten Bismarck verbunden ist mit einem 
reichen Begriffsinhalt glücklich gelungener und 
weiter fortschreitender sozialer Reform im Rahmen 
der gegenwärtigen, in der Hauptsache immer noch 
weitaus überwiegend individualistischen und pri- 
vatkapitalistischen Wirtschafts= und Gesellschafts- 
ordnung. 
Literatur. Eine zusammenfassende, systema- 
tische Literatur des S. fehlt bisher. Ad. Wagner 
selbst bemerkt zu seinen einschlägigen eignen Ar- 
beiten u. a. folgendes: „Schon in den beiden ersten 
Auflagen der Grundlegung sowie in der 
Finanzwissenschaft habe ich im ganzen den 
Standpunkt, welchen ich den staatssozialistischen“ 
im besprochenen Sinn nenne, vertreten. In dieser 
neuen Auflage (dritte der Grundlegung 1892) 
suche ich diesen Standpunkt noch schärfer zu ent- 
wickeln, aber nach beiden Seiten, des Sozialismus 
wie des Individualismus, ihn auch noch deutlicher 
abzugrenzen. 
„In den Aufsätzen über „Finanzwissenschaft 
und Staatssozialismus“ (Tüb. Ztschr. für Staats- 
wissenschaft, Jahrg. 1887) bin ich ebenfalls genauer 
auf grundlegende Prinzipienfragen eingegangen“ 
(Gr. 12 61 u. 62). 
Einschlägig sind von weiteren Wagnerschen Pub- 
likationen: Soziale Finanz= u. Steuerpolitik, im 
Archiv für soz. Gesetzgebung (1891); Die akadem. 
ationalökonomie u. der Sozialismus (Rektorats- 
rede 1895); Vortrag über das soz. u. eth. Moment 
in Finanz u. Steuern (Evang.-soz. Kongreß 1903); 
Theoret. Sozialökonomik (1. Abt. 1907, 2. Abt. 
1909). 
Für die allmähliche Ausgestaltung des Systems 
waren naturgemäß von größtem Einfluß „die kri-
	        
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