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leitung und Beweisprüfung, in der Freiheit der
Parteien bezüglich der schriftlichen Vorbereitung
und der vorsorglichen Beurkundung des Streit-
soßs ihren hervorstechenden Ausdruck findet"“
8 der Stellung der Staatsgewalt zum Zivil-
prozeßverfahren ergibt sich die Notwendigkeit,
dieses so zu gestalten, daß es dem wirklichen Recht
zum Sieg verhilft. Oberstes Prozeßprinzip muß
die Ermittlung der materiellen Wahrheit sein.
Dabei ist jedoch festzuhalten, daß den Gegenstand
des Zivilprozesses die der Verfügung des einzelnen
in ihrem Sein und Umfang unterworfenen Privat-
rechte bilden, über welche die Partei nicht nur
außerhalb des Prozesses, sondern auch in diesem
durch Anerkenntnis, Vergleich, Verzicht und Ge-
ständnis frei verfügen kann (Dispositionsmaxime).
Infolge dieser Parteiherrschaft über den Streit-
gegenstand verbleibt der individuellen Geschicklich-
keit der Parteien und deren Nachlässigkeit der
Haupteinfluß auf das Schicksal des Prozesses.
Aber deshalb geht doch die Behauptung zu weit,
daß es im Zivilprozeß nur auf formelle und nicht
auf materielle Wahrheit ankomme. Ein Prozeß-
verfahren, welches nicht erstrebte, daß das Recht,
wie es in ihm festgestellt wird, der Wirklichkeit
entspricht, würde ein fehlerhaftes sein. Der Staat
kann nicht zur absichtlichen Durchführung eines
Unrechts seine Hilfe leisten, ohne das gesamte
Volksleben zu schädigen. Handel und Industrie,
Landwirtschaft und Gewerbe sind an einem guten
Prozeßverfahren beteiligt; die bürgerliche Freiheit,
Selbstgefühl und Achtung des Richterstandes sind
durch die Art und Weise bedingt, in welcher das
Prozeßversahren den Zwecken der Rechtspflege
ient.
Die Leitung des begonnenen Prozesses voll-
zieht sich durch Entscheidungen (Beschlüsse des Ge-
richts oder Verfügungen des Vorsitzenden) oder
durch Termine und Fristen, prozeßleitende Zeit-
bestimmungen, an welchen oder innerhalb welcher
die Parteien die ihnen obliegende Prozeßhand-
lung vorzunehmen haben. Ob die Partei der Ent-
scheidung folgen, den Termin und die Frist wahren
will, steht regelmäßig in ihrem Ermessen. Mit
dem Ausbleiben in dem Verhandlungstermin, mit
der Nichtbeachtung der Prozeßfristen sowie mit
dem Ungehorsam gegen richterliche Verfügungen,
mit der Unterlassung der rechtzeitigen Vornahme
parteilicher Prozeßhandlungen überhaupt hat das
Gesetz nur prozessuale Nachteile verbunden, die
Kontumazialfolgen, welche verschieden sind,
je nachdem mit der Versäumung oder dem Unge-
horsam durch das Gesetz oder das Gericht die
Rechtsnachteile angeordnet sind. Prozeßleitung
und Kontumazialsystem sind die im öffentlichen
Interesse und im Interesse der Gegenpartei not-
wendigen Schranken gegen die Verschleppung des
Prozeßbetriebs.
Die Kehrseite der Dispositionsmaxime ist die
Verhandlungsmaxime, welche den Richter
Zivilprozeß.
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in Bezug auf die den erhobenen Anspruch be-
gründenden Tatsachen an das Vorbringen der
Parteien bindet, ne procedat iudex ex officio.
Der Richter darf der Partei nicht mehr und nichts
anderes zuerkennen, als was sie fordert und be-
gründet. Er darf nicht mangelhafte Anträge von
Amts wegen ergänzen oder fehlende einfügen, auch
nicht in Nebenpunkten, nicht vorgebrachte Angriffs-
oder Verteidigungsmittel supplieren, seiner Prü-
fung nicht die Voraussetzungen derjenigen Partei-
anträge unterziehen, welche der Gegner zugesteht
oder nicht beantwortet oder nicht geprüft haben
will. Endlich gilt: quod non in actis, non est
in mundo, b. h. der Richter darf den tatsächlichen
Prozeßstoff nicht von Amts wegen vermehren.
Nur das von den Parteien vorgetragene tatsäch-
liche Material, nicht auch seine zufällige Kenntnis
der Verhältnisse hat der Richter bei seinem Urteil
zu berücksichtigen. Doch gibt es Modifikationen.
Kraft seines Prozeßleitungsrechts kann der Richter
jederzeit durch Einnahme des Augenscheins und
durch Ausübung des Fragerechts den Sachverhalt
aufklären und nach Mitteln zur Feststellung der
materiellen Wahrheit forschen, ohne jedoch die An-
gabe solcher Mittel von den Parteien erzwingen
und selbständig Tatsachen und Beweismittel sam-
meln zu dürsen. In dem Prozeß sind Rechte und
Pflichten beider Parteien gleich, der Richter darf
daher nicht auf den einseitigen Antrag einer Partei
erkennen. „Eines Mannes Red eine halbe Red,
man verhör sie alle bed.“ Tatsachen, welche von
der Partei nicht bestritten werden, gelten als zu-
gestanden, wenn nicht die Absicht, sie bestreiten zu
wollen, aus ihren übrigen Erklärungen hervorgeht.
Dieser Anspruch der Partei auf richterliches Ge-
hör erlischt erst, wenn sie gehört ist, spätestens mit
dem Endurteil. Der Anspruch der Partei auf ge-
richtliche Entscheidung über ihr Vorbringen, und
soweit wechselseitiges Gehör stattgefunden hat, über
den gesamten Streitstoff ist mit Beginn der münd-
lichen Verhandlung zur Hauptsache gemeinschaft-
lich geworden, die bis dahin zulässige Zurücknahme
der Klage ist von nun ab ohne Einwilligung des
Beklagten nicht mehr statthaft. Ebenso sind Streit-
stoff und Beweismittel mit Beginn der zweiseitigen
Verhandlung gemeinschaftlich geworden.
Die Mündlichkeit des Verfahrens verlangt
die mündliche Rede als Mittel des Verkehrs zwi-
schen Parteien und Gericht. Die Entscheidung
des Gerichts muß ausschließlich auf Grund einer
mündlichen Verhandlung ergehen. Das münd-
liche Verfahren bringt die Parteien unmittelbar
vor das Gericht; nur derjenige Richter darf bei
der Entscheidung des Rechtsstreits mitwirken, vor
welchem der ganze Streitstoff vorgetragen worden
ist Unmittelbarkeit der Verhandlung). —
Die Offentlichkeit des Verfahrens besteht in
der Zulassung unbeteiligter Dritter zu der münd-
lichen Verhandlung und Urteilsfällung, sowie in
der Ermöglichung der Mitteilung der Prozeß-
verhandlung durch die Presse. Die Offentlichkeit