Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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leitung und Beweisprüfung, in der Freiheit der 
Parteien bezüglich der schriftlichen Vorbereitung 
und der vorsorglichen Beurkundung des Streit- 
soßs ihren hervorstechenden Ausdruck findet"“ 
8 der Stellung der Staatsgewalt zum Zivil- 
prozeßverfahren ergibt sich die Notwendigkeit, 
dieses so zu gestalten, daß es dem wirklichen Recht 
zum Sieg verhilft. Oberstes Prozeßprinzip muß 
die Ermittlung der materiellen Wahrheit sein. 
Dabei ist jedoch festzuhalten, daß den Gegenstand 
des Zivilprozesses die der Verfügung des einzelnen 
in ihrem Sein und Umfang unterworfenen Privat- 
rechte bilden, über welche die Partei nicht nur 
außerhalb des Prozesses, sondern auch in diesem 
durch Anerkenntnis, Vergleich, Verzicht und Ge- 
ständnis frei verfügen kann (Dispositionsmaxime). 
Infolge dieser Parteiherrschaft über den Streit- 
gegenstand verbleibt der individuellen Geschicklich- 
keit der Parteien und deren Nachlässigkeit der 
Haupteinfluß auf das Schicksal des Prozesses. 
Aber deshalb geht doch die Behauptung zu weit, 
daß es im Zivilprozeß nur auf formelle und nicht 
auf materielle Wahrheit ankomme. Ein Prozeß- 
verfahren, welches nicht erstrebte, daß das Recht, 
wie es in ihm festgestellt wird, der Wirklichkeit 
entspricht, würde ein fehlerhaftes sein. Der Staat 
kann nicht zur absichtlichen Durchführung eines 
Unrechts seine Hilfe leisten, ohne das gesamte 
Volksleben zu schädigen. Handel und Industrie, 
Landwirtschaft und Gewerbe sind an einem guten 
Prozeßverfahren beteiligt; die bürgerliche Freiheit, 
Selbstgefühl und Achtung des Richterstandes sind 
durch die Art und Weise bedingt, in welcher das 
Prozeßversahren den Zwecken der Rechtspflege 
ient. 
Die Leitung des begonnenen Prozesses voll- 
zieht sich durch Entscheidungen (Beschlüsse des Ge- 
richts oder Verfügungen des Vorsitzenden) oder 
durch Termine und Fristen, prozeßleitende Zeit- 
bestimmungen, an welchen oder innerhalb welcher 
die Parteien die ihnen obliegende Prozeßhand- 
lung vorzunehmen haben. Ob die Partei der Ent- 
scheidung folgen, den Termin und die Frist wahren 
will, steht regelmäßig in ihrem Ermessen. Mit 
dem Ausbleiben in dem Verhandlungstermin, mit 
der Nichtbeachtung der Prozeßfristen sowie mit 
dem Ungehorsam gegen richterliche Verfügungen, 
mit der Unterlassung der rechtzeitigen Vornahme 
parteilicher Prozeßhandlungen überhaupt hat das 
Gesetz nur prozessuale Nachteile verbunden, die 
Kontumazialfolgen, welche verschieden sind, 
je nachdem mit der Versäumung oder dem Unge- 
horsam durch das Gesetz oder das Gericht die 
Rechtsnachteile angeordnet sind. Prozeßleitung 
und Kontumazialsystem sind die im öffentlichen 
Interesse und im Interesse der Gegenpartei not- 
wendigen Schranken gegen die Verschleppung des 
Prozeßbetriebs. 
Die Kehrseite der Dispositionsmaxime ist die 
Verhandlungsmaxime, welche den Richter 
Zivilprozeß. 
  
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in Bezug auf die den erhobenen Anspruch be- 
gründenden Tatsachen an das Vorbringen der 
Parteien bindet, ne procedat iudex ex officio. 
Der Richter darf der Partei nicht mehr und nichts 
anderes zuerkennen, als was sie fordert und be- 
gründet. Er darf nicht mangelhafte Anträge von 
Amts wegen ergänzen oder fehlende einfügen, auch 
nicht in Nebenpunkten, nicht vorgebrachte Angriffs- 
oder Verteidigungsmittel supplieren, seiner Prü- 
fung nicht die Voraussetzungen derjenigen Partei- 
anträge unterziehen, welche der Gegner zugesteht 
oder nicht beantwortet oder nicht geprüft haben 
will. Endlich gilt: quod non in actis, non est 
in mundo, b. h. der Richter darf den tatsächlichen 
Prozeßstoff nicht von Amts wegen vermehren. 
Nur das von den Parteien vorgetragene tatsäch- 
liche Material, nicht auch seine zufällige Kenntnis 
der Verhältnisse hat der Richter bei seinem Urteil 
zu berücksichtigen. Doch gibt es Modifikationen. 
Kraft seines Prozeßleitungsrechts kann der Richter 
jederzeit durch Einnahme des Augenscheins und 
durch Ausübung des Fragerechts den Sachverhalt 
aufklären und nach Mitteln zur Feststellung der 
materiellen Wahrheit forschen, ohne jedoch die An- 
gabe solcher Mittel von den Parteien erzwingen 
und selbständig Tatsachen und Beweismittel sam- 
meln zu dürsen. In dem Prozeß sind Rechte und 
Pflichten beider Parteien gleich, der Richter darf 
daher nicht auf den einseitigen Antrag einer Partei 
erkennen. „Eines Mannes Red eine halbe Red, 
man verhör sie alle bed.“ Tatsachen, welche von 
der Partei nicht bestritten werden, gelten als zu- 
gestanden, wenn nicht die Absicht, sie bestreiten zu 
wollen, aus ihren übrigen Erklärungen hervorgeht. 
Dieser Anspruch der Partei auf richterliches Ge- 
hör erlischt erst, wenn sie gehört ist, spätestens mit 
dem Endurteil. Der Anspruch der Partei auf ge- 
richtliche Entscheidung über ihr Vorbringen, und 
soweit wechselseitiges Gehör stattgefunden hat, über 
den gesamten Streitstoff ist mit Beginn der münd- 
lichen Verhandlung zur Hauptsache gemeinschaft- 
lich geworden, die bis dahin zulässige Zurücknahme 
der Klage ist von nun ab ohne Einwilligung des 
Beklagten nicht mehr statthaft. Ebenso sind Streit- 
stoff und Beweismittel mit Beginn der zweiseitigen 
Verhandlung gemeinschaftlich geworden. 
Die Mündlichkeit des Verfahrens verlangt 
die mündliche Rede als Mittel des Verkehrs zwi- 
schen Parteien und Gericht. Die Entscheidung 
des Gerichts muß ausschließlich auf Grund einer 
mündlichen Verhandlung ergehen. Das münd- 
liche Verfahren bringt die Parteien unmittelbar 
vor das Gericht; nur derjenige Richter darf bei 
der Entscheidung des Rechtsstreits mitwirken, vor 
welchem der ganze Streitstoff vorgetragen worden 
ist Unmittelbarkeit der Verhandlung). — 
Die Offentlichkeit des Verfahrens besteht in 
der Zulassung unbeteiligter Dritter zu der münd- 
lichen Verhandlung und Urteilsfällung, sowie in 
der Ermöglichung der Mitteilung der Prozeß- 
verhandlung durch die Presse. Die Offentlichkeit
	        
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