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Sollten an der Aisne die erschöpften Armeen angehalten
werden zur so nötigen Atempause, zur Auffüllung ihrer
bedenklich zusammengeschmolzenen Bestände, zur dring-
lichen Ergänzung des gesamten Heeresbedarfs? Sollte zu
erneuter Tiefen- und Rechtsgliederung herangeholt werden,
was noch von rückwärts aus Festungen und Etappen er-
reichbar war? Sollte vielleicht jetzt schon Hacke und Spaten
den unüberwindlichen Abwehrwall der nächsten Kriegsjahre
türmen? Sollten die dadurch freigewordenen Kräfte des
Westheeres das wirtschaftsstarke Nordfrankreich nördlich der
Somme und den Rest Belgiens reinfegen, eine stete Drohung
für England, dessen zunächst einzig verfügbares Feldheer,
in Trümmer zerschlagen, in den Schutz von Paris und der
ihm benachbarten Franzosenarmeen zurückwich?
War nicht das russische, über alles Erwarten starke,
schnellbereite und zielbewußt geführte Feldheer jetzt schon
der wichtigste Gegner? Galt es nunmehr nicht, dem neuen
Feldherrngestirn, das ohnegleichen glänzend über den masu-
rischen Waldseen aufgestiegen war, die ganze noch übrige
deutsche Heereskraft zur Verfügung zu stellen, welche ver-
spätet endlich jetzt in der Heimat aufgeboten wurde? Er-
wucho nicht damit für den tapferen Bundeögenossen,
der opferbereit sich in Galizien der russischen Ubermacht
entgegenstemmte, am schnellsten die dringend nötige Ent-
lastung? Wurde nicht das Gleichgewicht der Kräfte am
schnellsten, sichersten und einfachsten dadurch hergestellt?
Das alles sind Fragen, welche den Leser nach mehr als
vier schweren Kriegsjahren mit ihren Krisen und. Wand-
lungen nur zu leicht geneigt ist, mit einem schnellen Ja
zu beantworten, und doch wäre das falsch, undankbar gegen
die Helden, die im Marnebecken das Unmögliche in kühne
Tat zu wandeln strebten.
Kein Soldat, weder Führer noch Kämpfer, hätte dag
damals verstanden. Drüben wich der Feind, ohnmächtig
gegen den deutschen Angriffsgeist, von Stellung zu Stel-
lung, scheinbar der Auflösung verfallen. Auf wenige Tage-
märsche winkte Paris, das die feindliche Regierung bereits
verlassen hatte.
Tiefste Entmutigung lastete sichtlich auf den Völkern
des Westens, Siegessicherheit trieb die deutschen Einfall-
beere zur Hergabe des letzten Hauches von Mann und
Noss, um den scheinbar zum Greifen nahen Endsieg zu
meistern. —
Rückblick auf den Marnefeldzug
Durch die voranstehende Darstellung hat der Leser die
gemügenden Unterlagen für ein eigenes Urteil über die
Marneschlacht erhalten. Dieses Urteil wird verschirden aus-
fallen, wie ja auch die Ansichten der damaligen Führer
unseres Heeres untereinander abwichen.
Persönlich bin ich der Ansicht, daß für die Oberste Heeres-
leitung im Verlaufe des Kampfes selbst kein Grund zum
Abbruch der Schlacht vor deren Durchkämpfung lag. Die
mißliche Lage des rechten Flügels der zweiten Armee durfte
nicht bestimmend werden für den Ausgang der Gesamt-
schlacht. Er wäre es kaum geworden, wenn die Oberste
Heeresleitung die Kampfleitung straff in die Hand ge-
nommen hätte und gegenüber den Einzelvorstellungen be-
sonders hoch eingeschätzter Unterfeldherren sich die volle
Freiheit des Urteils gewahrt hitte.
Die Charakterstärke eines Foch, der sich gegenüber der
deutschen dritten Armee in zweifellos gleich schlechter Lage
befand als der rechte Flügel der deutschen zweiten Armee
am 8. September im Naume von Fontenelle, feblte leider
bei der deutschen Obersten Heeresleitung und beim Ober-
befehlshaber der zweiten Armee. Leider ist das Kriegs-
tagebuch des Oberkommandos der zweiten Armee von
Kriegobeginn bis nach der Marneschlacht so dürftig, daß
es für die geschichtliche Beurteilung der Geschehnisse bei
der zweiten Armee keine genügende Unterlage bildet.
Bei der Uberlastung der Obersten Heereoleitung angesichts
des immer weiter um sich greifenden Weltbrandes hätte
die Einschaltung eines Oberbefehlshabers West oder wenig-
stens eines Oberbefehlshabers für den Stoßflügel (die
Armeen eins bis fünf) des Einfallsheeres vielleicht ver-
hütet, daß die Zügel immer mehr der Leitung entglitten,
bis sie in den entscheidenden Stunden ganz am Boden
schleiften.
Jedenfalls wäre dadurch auch der unheilvollen In-
anspruchnahme der dritten Armee durch ihre Nachbar-
armeen während des ganzen Marnefeldzuges vorgebeugt
worden.
Am Tage nach der Maasschlacht (Dinant) verhinderte das
Oberkommando der zweiten Armee durch seinen Hilferuf,
der die dritte Armee nach Westen abzog, das sofortige Nach-
drängen der dritten Armee in der für den Gesamterfolg
allein entscheidenden Südwestrichtung.
Am 27. August rief die vierte Armee zweimal um Bei-
stand gegen den Feind im Naume von Sedan, mit dem
sie seit 25. August im Kampfe stand. Die Oberste Heeres-
leitung schrieb aber der dritten Armee den Vormarsch nach
Südwesten vor (Seite 68).
Am 28. August bat die vierte Armee wiederum zweimal
um Hilfe. Die dritte Armee lenkte trotz der entgegenstehenden
Weisung der Obersten Heeresleitung ihr linkes Fiügelkorps
südostwärto, obwohl sie selbst auf der ganzen Front auf
Gegenstöße des frontmachenden Feindes traf.
Am 29. August riefen beide Nachbarn die dritte Armee
in direkt entgegengesetzter Nichtung zur Hilfeleistung herbei.
Die oberste Heeresleitung griff nicht ein.
In den folgenden letzten Augusttagen verlang!e die vierte
Armee fast täglich den Beistand der ganzen dritten Armee
zur Bewältigung der der vierten Armee obliegenden Ab-
rechnung mit der französischen vierten Armee.
Die Gelegenheit zu einem großen Schlage gegen letztere
ließ sich die Oberste Heeresleitung entgehen. Dazu wäre
die straffe einheitliche Leitung beider deutschen Armeen drei
und vier Vorbedingung gewesen.
Endlich bei Beginn der Marneschlacht forderten beide
Nachbararmeen, sobald sie auf den Feind stießen, dringendst
die Hilfe der dritten Armee. Das geschah sehr zum Schaden
des Ganzen. Meiner Überzeugung nach hätten die vier
Korps der deutschen vierten Armee vollauf genügt, um mit
dem gleichstarken Gegner endgültig abzurechnen.
Dann wäre die dritte Armee zu dem für den Gesamt-
erfolg allein entscheidenden Flankenstoß gegen die Armee
Foch stark genug gewesen. Auch hier fehlte die Oberleitung.
Leider griff die Oberste Heeresleitung überhaupt nicht
gegen diese einseitige Auscnützung der dritten Armee durch
die Nachbararmeen ein. Sie wies bei Beginn der Heeres-
bewegungen die zweite und dritte Armee „auf V. reinbarungen
untereinander“ hin und setzte noch in ihrer Weisung vom
5. September für die dritte Armee ganz allgemein fest,
daß sie „je nach der Lage in westlicher, südlicher oder süd-
östlicher Nichtung verwendet werden sollte“. Aber als un-
mittelbar darauf die große Schlacht begann, befahl sie
nichts, sondern überließ es den Oberkommandos der zweiten
und vierten Armee, soviel Nutzen aus der dritten Armee
für sich zu ziehen, als sie erreichen konnten.
Unter diesen wenig erfreulichen Umständen hat das Ober-
kommando der dritten Arme:e zweifellos das denkbar mög-
liche geleistet, ja mehr als das. —
War die Marneschlacht deutscherseits überhaupt zu ge-
winnen? So fragt der Nichtfachmann seit mehr als vier
Jahren. Die Antwort läßt sich nicht so einfach geben.
Das gegenseitige Stärkeverhältnis, wie es sich in der