Überlegenheitsdünkel slawischer Großmachtsucht waren dem
armen Muschik, dem irregeleiteten russischen Bauern, gründ-
lich vergangen. Immer zahlreicher wurden die Überläufer
und immer kürzer währte der Widerstand bei den Zusam-
menstößen kleiner Patrouillen wie großer Heereskörper.
Es knisterte schon in dem gewaltigen Gefüge des russi-
schen Heeresgebäudes. Aber noch lange Monate voll blu-
tiger Erfahrungen sollten vergehen, ehe die Verzweiflung
des russischen Volkes den Thron des Zaren wegfegte und
das Chaod in Rußland einzog.
Die Enescheidungskämpfe auf der Osftfront vom Juli
bis September 1915
Hindenburgs Durchbruch der russischen Narew-
front Juli—August 1015
Die Hauptaufgabe des Generalfeldmarschalls v. Hinden=
burg für das Kriegsjahr los bestand, wie im „Uberblick“
bereits ausgeführt ist, in der Zertrümmerung der Russen-
heere an der Ostpreußenfront und demnächst in der Erobe-
rung der russischen Festungsfront nördlich der Weichsel.
Letztere war durch Natur und Kunst mindestens gleich
stark und ausgedehnter als die französische Festungsfront
Belfort—Verdun, deren Bezwingung trotz enormer dazu
aufgebotener Kampfmittel bekanntlich nicht möglich gewor-
en ist.
Die Schwierigkeit dieser Aufgabe des Oberbefehlshabers
Ost ist damit zur Genüge gekennzeichnet.
Ende Mai 1915 war auch das treulose Italien in den Krieg
eingetreten. Trotzdem vermochte Österreich-Ungarn noch die
erforderlichen Kräfte zur Bezwingung des russischen Feld-
heeres dem deutschen Verbündeten beizustellen.
Bei Gorlice—Tarnow wurde die russische Front in Ga-
lizien Anfang Mai lg5 durchbrochen. In unermüdlichem
Siegeslauf fegte die Heeresgruppe Mackensen Galizien rein
und war im Juli zwischen Weichsel und Bug im Vor-
dringen gegen die Linie Lublin—Cholm, während der Rest
des k. und k. Feldheeres nach rechts fast in rechtem Winkel
anschließßend, nach Osten zu gegen das russische Festungs-
dreieck Luzk— Dubno—Rowno deckte.
In der Mitte der Heereofront der Mittelmächte stand um
diese Zeit die Armee des Prinzen Leopold von Bayern im
Kampfe gegen Warschau, rechts anschließend an der Pilica die
Armee Köveß und vor Iwangorod die Armeegruppe Woyrsch.
Die dem Generalfeldmarschall v. Hindenburg unterstell-
ten Armeen waren Anfang Juli l#15 etwa wie folgt ver-
teilt: General Below hielt mit der alten Hindenburgarmee
(Niemenarmee) den Südwestteil von Kurland, von Libau bis
an die Dubissa und deckte damit die Flanke der Armee
Eichhorn, welche die Russen vor und in der Niemenlinie
Kowno—Olita— Grodno festhielt.
Noch weiter rechts waren die Armeen Scholtz und Gall-
witz gegen die russische Bobr—Narewfront, Scholtz gegen
Osowiec—Lomsha—Ostrolenka (ausschließlich), Gallwitz
gegen Noshan—Hultusk—Nowo Georgiewsk bereitgestellt.
Mitte Juli 1915 gingen nun die inogesamt etwa zwei
Millionen Streiter der Mittelmächte gegen die ringsum-
stellte Russenarmee von sicherlich noch drei Millionen Sol-
daten zum Endkampfe vor. In kaum zwei Monaten waren
alle Festungen Westrußlands bezwungen, das russische Feld-
beer zerschmettert, Polen erobert.
Von den Hindenburgarmeen drückte die zehnte Armee
des Generalobersten v. Eichhorn, deren Anfangskämpfe be-
reits früher geschildert sind, die Nussen in zahlreichen Kämp-
fen, aber ohne größere Schlacht, bio Mitte August auf die
Festungen Kowno, Olita und Grodno zurück, schloß diese
zunächst ab und nahm sie schließlich in meisterhafter Scho-
nung der eigenen Kampfkraft, diese zu dem Schlußringen
im Raume von Wilna aufsparend.
203
Rechts von Eichhorn brach der General der Artillerie
Scholtz am 13. Juli überraschend gegen den Bobr= und
Narewabschnitt Osowiec—Lomsha vor, warf den Gegner in
unwiderstehlichem Ansturm über den Fluß zurück, eroberte
die festen Plätze Osowiec und Lomsha und drang bis Bialystok
vor (10. August).
Gleichzeitig mit der Armee Scholtz ging die Armee Gall-
witz gegen den unteren Narew und die dortigen russischen
Hauptfestungen vor.
Der Verlauf des meisterhaft angelegten Durchbruch-
bampfee gestaltete sich wie folgt (zunächst siehe Skizze 48):
Zunächst sollte die Armeegruppe Gallwitz zwischen Weichsel
und Szkwa, links anschließend die achte Armee Scholtz zwi-
schen Szkwa und Lomsha über den Narew vorbrechen.
Vorher galt es die gewaltigen russischen Feldstellungen
zwischen der deutschen Grenze und dem Narew zu durch-
stoßen. Das war eine gewaltige Aufgabe, lagen doch drei
bis vier Stellungssysteme hintereinander, jede Gruppe wieder
in drei bis vier Verteidigungslinien mit dreifachem Draht-
bindernis und allem, was neuzeitige Befestigungokunst er-
sonnen hat, gegliedert.
Die Armeeabteilung Gallwitz, auf 12, später 16 Dinvisio-
nen und etwa 4 Brigaden, darunter die sächsische Brigade des
Grafen Pfeil verstärkt, durchbrach bis zum 21. Juli die
ssarken russischen Stellungen beiderseits von Prasnysz und
Ciechanow und kämpfte sich dann bis zum 23. Juli bis
an den Narew von Ostrolenka bis Pultusé vor. Rechts
von dieser Stoßgruppe Gallwitz sicherte die Gruppe des
Generals v. Beseler bis zur Weichsel zunächst gegen den
Feind vor Nowo Georgiewss.
Am 23. Juli brach Gallwitz über Pultusk und Roshan
über den Narew vor, dabei sicherte die Brigade Pfeil gegen
Sierozk die rechte Flanke. Sie trat Anfang August zu dem
Belagerungskorps Beseler über und nahm ruhmreichen An-
teil an der Eroberung von Nowo Georgiewse (20. August,
Seite 283).
Die Stoßgruppe des Generals von Gallwitz (10 Divi-
sionen, dabei die s4. Infanteriedivision, eben vom Wesi-
kriegöschauplatz eingetroffen) wies am 26. und 27. Juli am
Prut südöstlich von Pultusk Massenstürme der weit über-
legenen Nussen — 8 Korps und 3 Kavalleriedivisionen waren
vor der Front Gallwitz festgestellt! — ab. Damit war die
55 Kilometer breite Bresche über den Narew gesichert. Bio
zum 3. August arbeitete sich auch der schwache linke Flügel
des Generals von Gallwitz im Raume oberhalb von Roshan
über den dort besonders hartnäckig verteidigten Narew vor.
Er war ebenso wie der anschließende rechte Flügel der
achten Armee Scholtz auf ungewöhnliche Hindernisse gestoßen.
Dabei drängte die Lage der Heeresgruppe Mackensen, die
seit dem 22. Juli nicht mehr recht vorwärtsgekommen war,
zu raschem Erfolg am Narew.
Ende Juli trat ein großer Fortschritt für die Westheere
ein. Mackensen, inzwischen verstärkt, nahm Lublin und
Cholm und entzog damit den Russen die Bahn Iwangorod —
Kowel. Er rückte nunmehr gegen die Bahnlinie Warschau.—
Brest Litowsk vor. Woyrschs Vortruppen überschritten in
der Nacht zum 29. Juli die Weichsel unterhalb von Iwan-
gorod, dag am 3. August fiel.
Die neunte Armee des Prinzen Leopold von Bayern warf
an demselben Tage die Russen in die alte Fortslinie von
Warschau zurück. Beseler schloß Nowo Georgiewsk eng ein.
Am 3. August vollendete auch die rechte Flügeldivision der
Armee Scholtz, die 7 S. Reservedivision des sächsischen Gene-
ralleutnants von Seydewitz ihren Ubergang über den Narew
an der Szkwamündung (Skizze 51).
Scholtz hatte von seinen schwachen Kräften 3 Divisionen
auf seinem rechten Flügel vereint und damit den Durchbruch
durch die Russenstellung nördlich des Narewo von Mitte Juli
ab erkämpft. Am Narew selbsit gewann sein Stoßflügel zu-