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Ein ganz neues Element war in den Kampf eingetreten,
der lange und sorgfältig vorbereitete, militärisch geleitete
und ausgestaltete Ortskampf der Gesamtbevölkerung, eine
furchtbare Erscheinung dieses an furchtbaren Uberraschungen
so reichen Völkerringens. Trotz des unzweifelhaft begrün-
deten Rückzuges des Feindes verteidigten noch Nachhuten
— wie sich später herausstellte — etwa zwei verstärkte
Brigaden der französischen 2. Infanteriedivision und Teile
der §1. französischen Reserve-Division das linke Maas-
ufer in sehr gut angelegten Stellungen, so daß es den
Angreifern zunächst nicht gelang, mit entscheidend star-
ken Truppenkörpern noch vor Abend den Ubergang zu
erzwingen.
Auf der ganzen Front erschwerte das Gelände den An-
griff außerordentlich. Senkrechte Felsemnwände umsäumen
das rechte Maaöufer, an dem entlang eine einzige Straße
hinführt. Diese war von feindlicher Seite aus völlig ein-
zusehen. Das rechte Flußufer war für Brückenmaterial
und stärkere Truppenabteilungen nur auf den wenigen,
von Osten herabführenden Straßen zu erreichen. Alle An-
marschwege wurden von der feindlichen Stellung aus der
Länge nach bestrichen. Von der im übrigen vorzüglichen
deutschen Artilleriestellung auf der Osthochfläche waren die
äußerst geschickt eingebauten Maschinengewehrnester an den
Uferhängen jenseits der Maas nicht zu fassen, ebensowenig
die meisten zu zäher Verteidigung eingerichteten Gebäude
der diesseits des Flusses gelegenen Ortschaften. Die Eigen-
art des Kampffeldes zwang schließlich zum Vorziehen ein-
zelner Geschütze bis in die vorderste Kampflinie und zum
Zusammenschießen ganzer Stadtteile von Dinant durch die
schwere Artillerie des Feldheeres. Dazu mußte vorüber-
gehend sogar die bereito bis an das Flußufer vorgedrun-
gene Infanterie zunächst wieder bis an den Ostrand von
Dinant zurückgenommen werden. So kam der Abend heran,
ehe an einen Brückenschlag und an einen Flußübergang
im großen zu denken war.
Im einzelnen verlief der Kampf etwa wie folgt:
XlI. Reservekorps
Das XII. Reservekorps. Auf den cußersten rech-
ten Flügel rückte das Xll. Reservekorps mit seiner 23. Re-
servedivision unter Generalleutnant von Larisch auf Mvoir
und Hour vor. An letzterem Ort sollte die Dioision hinter
der 32. Infanteriedivision des XII. Armeekorps die Maas
überschreiten. Die 24. Reservedivi)ion wurde noch auf dem
rechten Maasufer zurückgehalten.
Die Infanteriebrigaden der 23. Reservedivision haben
sich ohne Zusammenstoß mit dem Gegner bis zum Abend
bzw. bis zum folgenden Morgen auf das linke Maas=
ufer vorgearbeitet und dann am 24. August vormittags
zunächst allerdings fast ohne Artillerie die Verfolgung ener-
gisch aufgenommen.
XlI. Armeekorps
Dessen Infanterie hatte sich bereits in der Nacht zum
23. Augusi nahe an die Maas herangeschoben. Die gesamte
Artillerie des Korps eröffnete gleichzeitig am Morgen das
Feuer. Währenddem arbeiteten sich kampfkräftige Schützen-
linien an das rechte Flußufer in der ganzen Breite des
Korpsabschnittes heran. Rechts ging die 32. Infanterie-
division unter Generalleutnant Edlen von der Planitz gegen
den Abschnitt Hour#—Leffe vor, dabei auch die Marburger
11. Jäger, welche seit Abzug der Heereskavallerie der
32. Infanteriedivision zugeteilt waren.
Linko anschließend erhielt die 23. Infanteriedioision
unter Generalleutnant Freiherr von Lindemann die Stadt
Dinant und deren südlichen Villenvorort Les Rivages als
Ziel angewiesen. Alle Ubersetzmittel hatte der Gegner recht-
zeitig entfernt. Sämtliche Brücken waren zerstört, nur
die Hauptstraßenbrücke in Dinant war zunächst noch un-
versehrt, aber mit Drahthindernissen gesperrt und durch
zahlreiche geschickt versteckte Maschinengewehrnester am lin-
ken Magoufer verteidigt. Sie wurde erst am Nachmittag
des 23. August von den Franzosen gesprengt, als bei ihnen
der Fall der ersten Forts von Namur und der Ausgang
der Sambreschlacht bekannt wurden.
Der Gegner antwortete am Morgen des 23. August
auf der Angrifföfront des XII. Armeekorps zunächst nur
mit schwachem Artilleriefeuer. Seine Hauptkräfte schienen
in westlicher Richtung abgezogen zu sein, nur die mutmaß-
lichen Brückenstellen, gegenüber von Houx, Leffe und
Dinant waren anscheinend noch schwach besetzt. So gab
denn das Generallkommando des XII. Armeekorps in
Würdigung der allgemeinen Kriegslage, die auf möglichst
schnelles Nachstoßen weit über die Maas nach vorwärts
bindrängte, bereits 10,20 Uhr vormittags den Befehl zur
Ausführung des Flußübergangs.
Der Kampf bei Hour
Nur auf dem äußersten rechten Flügel, bei Houx gelang
er ohne Schwierigkeit. Die dortige Eisenbahnbrücke war
vom Gegner in der letzten Nacht gesprengt worden, jedoch
nur der Bogen am rechten Flußufer. UÜber seine Trüm-
mer arbeitete sich zuerst das III. Bataillon des Infanterie-
regiments 177 vor, Mann hinter Mann hinüberkletternd,
an der Spitze die 10. Kompagnie.
Der Gegner hatte zwar seine bereits früher erwähnten
ausgedehnten Stellungen am linken Flußufer gegenüber
von Houx im Feuer unserer gewaltigen Artillerieentwichklung
tapfer gehalten. Am Nachmittag gab er aber hier den
Widerstand auf. Wie die gefangenen Franzosen später an-
gaben, hatte sich das dortige Bataillon opfern sollen. 109
Tote und 400 Verwundete gaben Jeugnis von der Zuver-
lässigkeit dieser braven Truppe. Nur loo Franzosen wur-
den hier unverwundet gefangen genommen.
Die vordersten Kompagnien des Infanterieregimento
177, die 10. und 9. Kompagnie, nahmen mit ganz ge-
ringen Verlusten die feindliche Stellung und hielten die
Eisenbahnbrücke nunmehr frei für die folgenden Abteilun-
gen, zunächst noch das II. Bataillon des Infanterieregi-
ments 177, dann Teile der 63. Infanteriebrigade, voran
ihr Kommandeur, Generalmajor von Gersdorff mit einigen
Kompagnien des Infanterieregiments 103.
Später rückte hier auch die 45. Reservebrigade der
23. Reservedivision über die Maas. Für die Pferde aller
Truppen, für die Artillerie und die Gefechtobagage kam
aber nur die später bei Leffe bis zum 24. August fertig-
gestellte Kriegobrücke der 32. Infanteriedivision in Be-
tracht.
Der Kampf bei Leffe
Bei Leffe hatte der linke Flügel der Division von der
Planitz zunächst schwere Arbeit. Aus allen Häusern dieses
schmal am Flußrand unter den Felshängen sich hinziehenden
nördlichen Vororts von Dinant, mit dem es völlig zu-
sammenhängt, schlug den anrückenden Sachsen heftigstes
Feuer entgegen. Den festverbauten Häusern mit Schieß=
löchern in Mauern, Dächern, Schornsteinen und Kellern
war mit dem Schanzzeug der Truppen nicht beizukommen.
Aber die braven Pioniere schafften Rat. Doch erforderte
ihre Arbeit geraume Zeit, da Haus nach Haus einzeln
in Angriff genommen werden mußte. Währenddem schlug
von jenseito des Flusses aus gut versteckten Maschinen=
gewehrnestern und von den feindlichen Schützen in den
Häusern und binter den Mauern längs des Wesiufers