212 Achtundzwanzigstes Kapitel: Berliner Congreß.
die Sondirung durch eine Anfrage bei dem Vertreter der zu son-
direnden Macht seine Bedenken hat, hatte die russische Diplomatie
durch die Vorgänge zwischen dem Kaiser Nicolaus und Seymour
erfahren. Die Neigung Gortschakows, telegraphische Anfragen
bei uns nicht durch den russischen Vertreter in Berlin, sondern
durch den deutschen in Petersburg zu bewirken 1), hat mich ge-
nöthigt, unfre Missionen in Petersburg häufiger als an andern
Höfen darauf aufmerksam zu machen, daß ihre Aufgabe nicht
in der Vertretung der Anliegen des russischen Cabinets bei
uns, sondern unfrer Wünsche an Rußland liege. Die Versuchung
für einen Diplomaten, seine dienstliche und gesellschaftliche Stel-
lung durch Gefälligkeiten für die Regirung, bei der er beglaubigt
ist, zu pflegen, ist groß und wird noch gefährlicher, wenn der
fremde Minister unsern Agenten für seine Münsche bearbeiten
und gewinnen kann, ehe dieser alle die Gründe kennt, aus denen
für seine Regirung die Erfüllung und selbst die Zumuthung inop-
portun ist.
Außerhalb aller aber, selbst der russischen, Gewohnheiten lag
es, wenn der deutsche Militärbevollmächtigte am russischen Hofe uns,
und während ich nicht in Berlin war, auf Befehl des russischen
Kaisers eine politische Frage von großer Tragweite in dem kate-
gorischen Stile eines Telegramms vorlegte. Ich hatte, so unbequem
sie mir auch war, nie eine Aenderung in der alten Gewohnheit er-
langen können, daß unfre Militärbevollmächtigten in Petersburg.
nicht, wie andre, durch das Auswärtige Amt, sondern direct in
eigenhändigen Briefen an Se. Majestät berichteten, — einer Ge-
wohnheit, die sich davon herschrieb, daß Friedrich Wilhelm III. dem
ersten Militärattaché in Petersburg, dem frühern Commandanten
von Kolberg, Lucadon, eine besonders intime Stellung zu dem Kaiser
gegeben hatte. Freilich meldete der Militärattaché in solchen Briefen
Alles, was der russische Kaiser über Politik in dem gewohnheits-
) S. o. S. 173.