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dem Einfluß des Belagerungszustandes im Laufe der Zeit in Wort
und Schrift eine ganz eigene Ausdrucksweise herausgebildet hatte,
die heute vielleicht kaum mehr verständlich erscheint. Diese revo-
lutionäre Dialektik muß man aber verstehen, um vieles richtig be-
urteilen zu können.
Die durch den Belagerungszustand bedingte Beengung der pazi-
fistischen Tätigkeit führte dazu, daß die großen Organisationen in
das neutrale Ausland verlegt wurden. Die „Friedenswarte“, die
später unter dem Namen „Blätter für zwischenstaatliche Organi-
sation“ nach Deutschland eingeschmuggelt wurde, ließ sich im April
1915 in der Schweiz nieder. Von hier aus erfolgte auch der illegale
Versand der „Freien Zeitung“ (Faksimile 1), deren eigentlicher geistiger
Leiter der ehemalige deutsche Konsul Schlieben war. Dieses Blatt,
von der Entente unterstützt, war genau so deutschfeindlich wie der
in Holland erscheinende „De Amsterdammer“, der auch auf Umwegen
nach Deutschland hereinkam.
Bereits am 8. Oktober 1914 erfolgte die Gründung des „Anti-
Oorlog-Raad“ im Haag, der eine äußerst lebhafte Propaganda betrieb,
die bereits wenige Monate später schon deutliche Erfolge zeitigte.
Wenige Tage später, am 25. Oktober 1914, wurde in Bern das „Inter-
nationale Komitee zum Studium der Grundlagen eines dauerhaften
Friedens“ gegründet. So waren in zwei der an Deutschland angren-
zenden neutralen Länder starke pazifistische Zentren geschaffen, deren
Einfluß auf Deutschland bald bemerkbar wurde.
Die pazifistische Bewegung in Deutschland war zweifellos an
und für sich ziemlich belanglos, und die meisten ihrer Führer
mußten während des Krieges erst „umlernen!““. Der immer
stärker werdende Einfluß eines auf völlige Negation ein-
gestellten Intellektualismus, zu dem sich eine bis zur natio-
nalen Entmannung steigernde Sympathie für die Französische Republik
1 Einer der typischsten Vertreter dieser Sorte ist Hellmuth von Gerlach,
der am 17. August 1914 schrieb: „Not kennt kein Gebot.
Der Reichskanzler war es, der diese Losung ausgab. Sie muß unser Leit-
motiv für diese Kriegszeit bleiben. Kriegsmoral ist nicht Friedensmoral. Jetzt
heiligt der Zweck jedes Mittel. Das Jiel muß nur edel und das Mittel zweck-
mäßig sein.“