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Form der Verbindung gefunden werden, in welcher Jeder nur sich
selbst gehorcht und mithin so frei bleibt wie vorher; dieses Problem
kann nur dadurch gelöst werden, daß Jeder seine Person und sein
Vermögen unter eine Herrschaft stellt, an welcher Jeder Theil hat.
Der Zweck des Staats (der socialen Verbindung) ist das Gemein-
interesse aller Mitglieder; mit diesem kann kein Einzelwille auf die
Dauer übereinstimmen, sondern nur der Gemeinwille; dieser Ge-
meinwille kann nur durch ein Zusammenwirken der Willen aller
Einzelnen ermittelt werden; daraus folgt wiederum die Theilnahme
Aller an der Souverainität.
Gehen wir zur Prüfung dieses Raisonnements über, so müssen
wir die Richtigkeit der Ausgangspunkte beider Schlußreihen zugeben,
während wir die daraus gezogenen Consequenzen entschieden verwer-
fen. Die Freiheit ist in der That ein unveräußerliches Recht jedes
Menschen, aber nicht jede Beschränkung hebt die Freiheit auf; viel-
mehr müssen die Menschen, um innerhalb einer gewissen, zur Be-
friedigung ihrer Lebensaufgaben unentbehrlichen Sphäre mit Sicher-
heit frei sein zu können, auf einen Theil ihrer Freiheit verzichten;
das Problem einer socialen Verbindung, in welcher Niemand von
seiner Freiheit opfert, ist unlösbar; der Antheil an der Herrschaft
über Andere hebt nicht den Zwang auf, dem wir selbst unterwor-
feen sindt damit wir auch in den Angelegenheiten, über welche die
Gemeinschaft beschließt, nur unserm eigenen Willen folgen könnten,
wäre in jedem Fall Einstimmigkeit nothwendig — dann aber brauch-
ten wir keine souveraine Gewalt, keine Gesetzgebung: Verträge ge-
nügten 57). Die praktische Nothwendigkeit, von dem Erforderniß
der Stimmeneinheit abzusehen, begreift auch Rousseauss), er nimmt
57) Höchstens würde der Weg der Gesetzgebung eine formelle Erleichterung
(durch den periodischen Zusammentritt der Einzelnen, die Publikation u. s. w.)
gewähren. Zu berücksichtigen ist freilich, daß die Staatsgewalt, als souveraine,
nach freiem Ermessen entscheidende Gewalt nicht allein in der Gesetzgebung, son-
dern auch in der Regierung sich äußert; aber eine Regierungsgewalt kennt Rous-
seau Überhaupt nicht, sondern bloß eine in der physischen Ausführung der Gesetze
bestehende Vollziehungsgewalt. Nur dadurch begreift sich die abhängige Stellung,
welche er dem „Gouvernement“ zuweist, und die praktische Möglichkeit des Ver-
langens, daß das souveraine Volk in seinen Versammlungen, ohne jede Reprä-
sentation, die gesammte Souverainität ausübe (Livre III, Chap. I: Du Gou-
vernement en général; Chap. XV: Des Députés ou Représentans).
58) Livre IV, Chep. II: Des Suffrages. Seine Begründung der Entscheidung
durch Stimmenmehrheit (für welche er übrigens sehr verschiedene Abstufungen vor-
schlägt) vermittelst einer Klausel des Socialcontracts interessirt uns hier nicht.