Full text: Die Legitimation einer usurpirten Staatsgewalt. Erste Abtheilung. (1)

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aber an, daß man frei sei, wenn man dem allgemeinen Willen 
folgt, der doch möglicherweise von dem eigenen sehr verschieden ist, 
und verleugnet so sein Princip. Ebenso wenig gewährt ein Majo- 
ritätsbeschluß Garantie für die gleichmäßige Beruͤcksichtigung der 
Interessen Aller; denn selbst wenn, wie Rousseau verlangt), das 
souveraine Volk niemals individuelle Angelegenheiten bestimmt, so 
werden doch auch dieselben Bestimmungen für Alle nicht Alle gleich- 
mäßig berühren, so lange man nicht alle natürliche Verschiedenhei- 
ten der Menschen beseitigt haben wird; leidet aber die Minorität 
mehr, als die Majorität gewinnt, so ist leicht auch das Gemein- 
interesse verletzt. Für die stete Befriedigung des Gemeininteresses 
würde aber auch Einstimmigkeit aller Staatsgenossen keine unfehl- 
bare Sicherheit bieten; denn auch allen zusammen kann die richtige 
Einsicht fehlen; noch leichter wird es geschehen, daß die Majorität 
nicht wegen eines ihr besondern Interesses, sondern aus Irrthum 
sich mit dem öffentlicheu Wohl in Widerspruch setzt to). Anderer- 
seits ist es nicht unmöglich, daß auch eine kleinere Zahl von Staats- 
genossen oder selbst ein Einzelner durch vorzügliche Einsicht und 
durch Uneigennützigkeit oder Interessengemeinschaft mit dem übrigen 
Volke am meisten zur Vertretung des Gemeininteresses, also zum 
Organ des Staates sich qualificirt. Die Geschichte zeigt uns, daß 
namentlich in gemäßigten Monarchien das Wohl des ganzen Vol- 
kes mit Erfolg wahrgenommen und zugleich die Freiheit der Bürger 
in weitem Umfange aufrecht erhalten worden ist; sie zeigt uns an- 
dererseits Demokratien, in denen im Gegentheil die Freiheit unter- 
drückt und das Wohl des Volkes zerrüttet wurde. Wir können 
demnach weder aus Vernunftgründen, noch aus der Erfahrung die 
unbeschränkte Demokratie als die einzige rationelle Staatsform an- 
erkennen; sobald aber mehrere Staatsformen nach allgemeinem 
Staatsrecht zulässig sind, liegt kein Grund vor, die rechtliche Statt- 
–. — — 
59) Livre II, Chap. VI: De la Loi. 
60) Rousseau mieint allerdings (Livre II, Chap. III: Si la volonté géné- 
rale peut errer): „Si, quand le peuple suffisamment informé délibére, les 
Citoyens n'avaient aucune communication entre eux, du grand nombre des 
petites différences résulterait toujours la volonté générale, et la délibé- 
ration serait toujours bonne“. Aber wann sind die Bürrger hinreichend 
unterrichtet? und worauf gründet sich die Zuversicht, daß die kleinen Differenzen 
sich immer gegenseitig unschädlich machen und das Zustandekommen eines positi- 
ven Resultats nicht verhindern werden?
	        
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