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5. Heimath- Wesen.
Ueber die Frage, ob die Erwerbung des Unterstützungswohnsitzes am Aufenthaltorte des Mannes dadurch aus-
geschlossen wird, daß er am Wohnorte seiner Angehörigen ein zivilrechtliches Domizil beibehält, spricht sich ein
auf das frühere preußische Armenrecht zurückgreisendes Erkenntniß des Bundesamtes vom 8. Dezember 1873
in Sachen Attendorn wider Rhode, welches auch für die Anwendung des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870
von Bedeutung ist, dahin aus:
Mit Recht ist vom ersten Richter angenommen worden, daß Johann X., welcher bis zu seinem
Ableben am 10. Mai 1870 ununterbrochen 6½ Jahre lang im Hause des Rentmeisters S. zu
Schnellenberg (Gemeinde Attendorn) die Arbeiten eines Knechtes oder ständigen Tagelöhners ver-
richtete, während dieser Zeit seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bezirke des verklagten Armenver-
bandes gehabt und hierdurch einen auf seine ehelichen Kinder übergegangenen Unterstützungswohnsitz
daselbst nach §. 1 Nr. 3 des Armenpflegegesetzes vom 31. Dezember 1842 begründet habe.
Denn nach der eigenen Darstellung des Verklagten steht es fest, daß X. in Schnellenberg
nicht blos am Tage gearbeitet, sondern auch die Nächte zugebracht und an diesem Orte den Mittel-
punkt seiner wirthschaftlichen Existenz gehabt hat, wenngleich er während seines Aufenthaltes in
Schnellenberg seine Familie anderwärts wohnen ließ und dieselbe häufig besuchte. Diese Besuche
machte X. augenscheinlich nicht in der Absicht, am Wohnorte der Familie zu bleiben und seinen
früheren Aufenthalt daselbst fortzusetzen, sondern stets in der Absicht, nach Schnellenberg zurückzu-
kehren. Die faktischen Verhältnisse begründen also den Schluß, daß X. immer nur vorübergehend
am Wohnorte der Familie, ständig aber am Wohnorte des Arbeitgebers seinen Aufenthalt gehabt
hat. Der thatsächlichen Lage des Falles gegenüber kommt es auch nicht in Betracht, wenn, wie
Verklagter in jetziger Instanz anführt, das Arbeitsverhältniß zwischen S. und X. alle vierzehn Tage
aufgehoben werden konnte, denn hieraus allein folgt nicht, daß der einen Zeitraum von 6 Jahren
übersteigende Aufenthalt in Schnellenberg ein nur vorübergehender war. Noch weniger folgt dies
aus der Fortführung des X. in der Steuerliste und der Wahlliste der Gemeinde Rhode. Aus den
Umständen des Falles geht im günstigsten Falle hervor, daß X. so lange seine Frau lebte, sowohl
am Wohnorte derselben als an seinem eigenen Aufenthaltsorte ein Domizil im zivilrechtlichen Sinne
besaß; das Domizil am Aufenthaltsorte muß aber als das armerrechtlich prävalirende angesehen
werden aus demselben Gesichtspunkte, nach welchem das Armenpflegegesetz vom 31. Dezember 1842
in §. 3. alin. 2. beim Zusammentreffen der Verpfichtung mehrerer Armenverbände aus §. 1 Nr. 1
und 2 den gewöhnlichen Aufenthalt für entscheidend erklärt.
In Sachen des Ortsarmenverbandes der Stadt Göttingen, wider den Landarmenverband des
Regierungs-Bezirks Kassel, hat das Bundesamt durch Erkenntniß vom 8. Dezember 1873, den verklagten
Landarmenverband zur Erstattung von Kurkosten verurtheilt, welche durch Verpflegung eines Kranken außerhalb
selnes Bezirks entstanden waren. Die Gründe der Entscheidung, aus welchen sich das Sachverhältniß ergiebt,
lauten wie folgt: ·
Kläger ist mit seinem Anspruche auf Erstattung der für den angeblich heimathlosen Seiler-
gesellen S. aufgewandten Kur- und Verpflegungskosten in ersier Instanz wegen ungenügender Be-
gründung der Landarmenqualität abgewiesen worden und hat frislzeitig appellirt.
Der Anspruch stützt sich darauf, daß S. vom 19. Dezember 1871 bis 6. Mal 1872 im
akademischen Hospital zu Göttingen behufs Heilung von Geschwüren für Rechnung des Klägers habe
verpflegt werden müssen, nachdem er am 18. Dezember 1871 in Kassel unter Vorlegung eines ärzt-