Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

  
Blindenwesen 
haltenen Anregungen begann dann Haüy selbst 
Blinde zu unterrichten, und gründete im Jahre 
1785 in Paris aus eigenen und ihm von Wohltätern 
zur Verfügung gestellten Mitteln die erste Blinden- 
anstalt, die schon wenige Jahre später (1791) vom 
Staate übernommen wurde. Der Unterricht in 
dieser Anstalt erstreckte sich nicht nur auf die Erler- 
nung geeigneter Handarbeiten, sondern auch auf 
Lesen, Schreiben, Rechnen, Geographie und Musik. 
Haüy benutzte zum Lesen erhabene Buchstaben 
aus Metall (sog. Reliefschrift), zum Schreiben be- 
sondere Handführungsapparate, zum geographi- 
schen Unterricht Landkarten, auf denen Gebirge, 
Flüsse, Städte, Landesgrenzen usw. durch Stickereien 
verschiedener Art unterscheidbar waren. Er machte 
also vor allem den Tastsinn für den Unterricht 
der Blinden, insbesondere zur Erlernung der Blin- 
denschrift, nutzbar; an diesem Grundsatz ist auch spä- 
ter bei der weiteren Vervollkommnung seiner Un- 
terrichtsmethode, um die sich anfangs des vorigen 
Jahrhunderts namentlich die Blindenanstalts-Direk- 
toren Zeumes-Berlin, Kleinc-Wien und Knie- 
Breslau Verdienste erworben haben, festgehalten 
worden. Die jetzt in den Blindenanstalten allgemein 
übliche Blindenschrift ist die der Telegraphenschrift 
ähnliche sogenannte plastische Punktschrift nach dem 
System von Braille (1809—1852), die durch 
Kombination von verhältnismäßig wenig erhabe- 
nen Punkten (bis 6) für jeden Buchstaben des Al- 
phabets, für jedes Satzzeichen, jede Zahl, Note usw. 
eine bestimmte Punktfigur angibt. Diese Schrift 
ist für die Blinden leicht zu erlernen; sie ermöglicht 
ihnen verhältnismäßig schnelles und sicheres Lesen 
der darin hergestellten Druckschriften; ist für sie 
leicht zu schreiben (mit Hilfe besonders dazu herge- 
stellter Apparate) und auch leicht wieder zu lesen. 
In neuester Zeit ist es auch gelungen, ein allgemein 
anerkanntes Kurzschriftsystem nach Braille- 
3 Methode zu gewinnen, das einen großen Fort- 
schritt namentlich auch für die Beschaffung an Lese- 
und Bildungsstoff für Blinde bedeutet, die sich be- 
sonders die „Zentralbibliothek für die Blinden 
Deutschlands“ zur Aufgabe gemacht hat. Sie ver- 
fügt schon jetzt über 7500 Bände und eine große 
Anzahl von Musikwerken in Punktschrift. 
Der Unterricht der Blinden erfolgt ent- 
weder mit Beginn des schulpflichtigen Alters oder 
etwas später; einzelne Blindenanstalten z. B. in 
Hannover, Chemnitz usw. sind mit sog. Vorschulen 
verbunden, in denen die Kinder schon früher (im 
3. und 4. Lebensjahre) ausgenommen werden und 
in ähnlicher Weise wie vollsinnige Kinder in sog. 
des Gedächtnisses, 
rbeiten usw. für den 
vorbereitet werden. Dieser 
unterscheidet sich, was den Lehrstoff anbetrifft, 
in nichts von dem der Volksschule. Beim Rechen- 
unterricht wird Kopfrechnen bevorzugt, zum schrift- 
lichen Rechnen werden die Brailleschen Punktfi- 
Zuren für Zahlen und besondere Rechentafeln be- 
nmutzt. Für den Unterricht in der Geographie die- 
nen mit staunenswerter Genauigkeit ausgeführte 
Reliefkarten, Botanik wird an lebenden Pflanzen, 
Zoologie an ausgestopften Tieren und Modellen 
Kelebri auch für alle anderen Unterrichtsgegen- 
ände (Raumlehre, Naturlehre usw.) sind in den 
Blindenanstalten reichhaltige Sammlungen von 
Unterrichtsmaterial vorhanden. Der Unterricht 
schließt aber keineswegs mit dem üblichen Ende 
  
   
    
  
   
mit 
  
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der Schulpflicht ab, sondern dauert in der Regel 
bis zum 18. und 20. Lebensjahre, denn der Blinde 
soll vor seiner Entlassung in einem nach Maßgabe 
seiner Befähigung für ihn geeigneten Beruf oder 
Handwerksbetrieb tunlichst soweit ausgebildet wer- 
den, daß er sich wirtschaftlich selbständig machen 
kann. In Betracht kommen hierbei besonders: 
Seilerei, Korbmacherei, Bürstenmacherei, Buch- 
binderei, Tischlerei und Drechslerei für männliche, 
Flecht-, Stick-, Häckelarbeiten, Maschinennähen 
und -Stricken für weibliche Blinde; auch der Be- 
ruf als Klavierstimmer, Musiker und Musiklehrer 
hat sich für musikalisch beanlagte Blinde als sehr 
zweckmäßig erwiesen, desgleichen die Ausübung 
der Massage, die übrigens in Japan schon seit Jahr- 
hunderten vorzugsweise von Blinden erfolgt. 
Besonders schwierig gestaltet sich der Unterricht 
bei den sog. Taubstummblinden, daß 
er aber auch diesen gegenüber von Erfolg gekrönt 
sein kann, beweist die bekannte Taubstummblinde 
Helen Keller und die äußerst günstigen Resultate, 
die in dieser Hinsicht in der schwedischen Muster- 
anstalt Vänersborg bei Taubblinden erzielt sind. 
Im Deutschen Reiche waren nach der Volkszählung 
von 1905 260 taubblinde Personen vorhanden, 
davon 144 in Preußen. Es besteht zur Zeit nur 
eine Anstalt für sie, in Nowawes bei Potsdam, die 
hauptsächlich durch eine im Jahre 1907 ins Leben 
gerufene Gesellschaft von Freunden der Taub- 
stummblinden unterhalten wird. 
II. Blindenanstalten sind jetzt in allen 
zivilisierten Staaten mehr oder weniger vollkom- 
men eingerichtet vorhanden: in Preußen die 
erste im Jahre 1806 in Berlin, die im Jahre 1877 
nach Steglitz verlegt wurde; in Bayern 
wurde eine solche 1826 in München, für Würt- 
temberg 1827 in Stuttgart errichtet. Zur Zeit 
sind im Deutschen Reiche 30 öffentliche Blin- 
denanstalten mit rund 2600 Plätzen vorhanden, da- 
zu kommen noch 2 Blindenvorschulen in Hannover 
und Chemnitz. Von diesen Anstalten entfallen auf 
Preußen 16 (1 staatliche (in Steglitzl, 1 städtische 
(Berlin) und 14 provinzialständische), auf Bayern 4 
(staatlich), Sachsen 2(je eine staatliche und städtische), 
auf Württemberg, Baden, Hessen je 1 (staatlich) 
und auf Elsaß-Lothringen 2 (staatlich). Die An- 
stalten sind fast ausschließlich Internate; nur die- 
jenigen in Berlin und in Friedberg (Großherzogtum 
Hessen) sind mit Externaten verbunden. Zur Auf- 
nahme in eine solche Anstalt bedarf es der Bei- 
bringung eines Geburts= oder Taufscheines des 
Kindes, eines Impfscheines, eines ärztlichen Zeug- 
nisses über die Ursache der Erblindnug und über die 
Bildungsfähigkeit des Kindes, einer Bescheinigung 
der Ortsobrigkeit und Verbindlichkeitserklärung 
über die Tragung der Pflegekosten. Die Errich- 
tungs-- und Unterhaltungskosten 
der Anstalten werden in allen Bundesstaaten aus 
öffentlichen Mitteln — in Preußen von den Pro- 
vinzen auf Grund des G v. 8. 7. 75, in allen üb- 
rigen Bundesstaaten vom Staate, soweit es 
sich nicht um städtische Anstalten handelt — ge- 
tragen, die unterhaltungspflichtigen Angehörigen 
bezw. die Orts- oder Landarmenverbände haben 
nur ein meist recht niedrig bemessenes Pflegegeld 
u entrichten. Die Anstalten sind überall der Auf- 
sich der Schulaufsichtsbehörden unterstellt, in 
Preußen den Provinzial-Schulkollegien, ihr sonsti- 
ger Betrieb ist durch besondere Reglements 
 
	        
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