fullscreen: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
102 Theater. XI. Buch. 
  
falsch. In ihr, „Die Fahnenweihe“, wird der Posthalter Schlegel und seine Frau, 
eine Dame, die ihre Gunst gar zu freigebig verschenkt, doch bestraft dadurch, daß sie 
schwere Stunden durchleben und schließlich ihren Protektor, den Großhändler Rettinger, 
verlieren. Sonst aber triumphieren in dieser übermütigen, scharf charakterisierten Posse 
die Unsittlichkeit, die Schlauheit, die Streberei, und es ist ungemein lustig zu sehen, 
wie die demoralisierten Stadtmenschen sich erbost zeigen über die Roheit der Dörfler. 
L. Thoma. Der angefaulten bürgerlichen NAoralität hält Ludwig Thoma 
— in seiner Komödie „Moral“ (München 1909) einen Spiegel vor. 
Oiese sich mit Sittlichkeit blähende Gesellschaft einer kleinen Residenz, die mehr von 
Tugend redet als nach ihr handelt, triumphiert zwar scheinbar, da die Kokotte, in deren 
Kleiderschrank der Erbprinz sich versteckt hatte, als Triumphatorin die Stadt verläßt, 
deren „gute Gesellschaft“ sie durch ihre Aufzeichnungen in nicht gelinde Aufregung ver- 
setzt hatte, — aber das wollte ja der witzige und aufrichtige Dramatiker schildern, wie 
innerlich morsch diese Tugendhelden sind, die es wagen, im Vertrauen auf ihre eigene 
Unantastbarkeit die Lasterhaftigkeit des Pöbels zu bekämpfen. 
Dieselbe Art tritt in manchen Werken Otto Erich Hart- 
lebens hervor. „Oie sittliche Forderung“ (Berlin 1897) 
zeigt lustig, wie der ehrbare Kaufmann Friedrich Stierwald, der seine JZugend- 
geliebte, die aus Rudolstadt fortgelaufen und eine berühmte Sängerin geworden ist, 
zur Sittlichkeit bekehren, wie er sie heiraten will und schließlich einfach in ihre Schlingen 
fällt, ohne sich um die von ihm so eifrig gepredigte Sittlichkeit zu kümmern. Auch in seinen 
anderen dramatischen Werken, z. B. „Hanna Jagert“, werden ähnliche Motive behandelt. 
O. E. Hartleben. 
  
Unter Heimatskunst verstehen wir hier, daß speziell die ein- 
zelnen Landschaften vorgeführt werden, sei es, daß einzelne 
Personen geradezu im Oialekt sprechen, sei es, daß Vorgänge, die durch ihren Provinzialis- 
mus begründet und verständlich sind, Gegenstand der Dichtung bilden. Das zeigt sich 
bei Hauptmann (Schlesien), bei Sudermann (Ostpreußen), bei Halbe (Deutsch-Polen). 
Heimatskunst. 
  
Gewiß ist Heimatskunst und Erdgeruch etwas anderes als die 
Handgreiflichmachung provinzieller Sitten und Unsitten. Der 
Schlesier wurzelt fest in seiner Heimat, der Berliner, mag er Autochthone oder Eingewan- 
derter sein, liebt es, seinen Wohnsitz zum Schauplatz der Aktion zu machen. Daher mag 
es gestattet sein, an dieser Stelle das spezifisch Wienerische, das in außerordentlich 
vielen Lustspielen hervortritt, im Zusammenhang damit zu erwähnen. 
Oie österreichisch-ungarische Monarchie, speziell Deutsch-Osterreich, war seit langer 
Zeit das klassische Theaterland: das Burgtheater, das lange als die einzige Heimstätte 
deutscher Kunst galt, hat sich die Traditionen aus seiner besten Zeit zu wahren gewußt. 
Schauspieler österreichischen Ursprungs sind auf allen Theatern zu finden, die Operette, 
wie früher die große Oper, hat ihre Hauptkomponisten in Österreich. Aber in neuerer 
Wienerisches. 
  
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