Full text: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen vom Jahre 1910. (76)

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§ 16. 1. Der Unterricht in der Literaturgeschichte, der die Beziehung zur allge= Bemerkungen. 
meinen Kultur der Zeitabschnitte, mit der die Schülerinnen zum Teil schon in der 
höheren Mädchenschule bekannt geworden sind, zu wahren hat, kann nur die Grund- 
züge der Entwicklung behandeln und hat sein wichtigstes Ziel in der Befähigung der 
Schülerinnen zu denkender und fühlender Vertiefung in die dichterischen Kunstwerke. 
Da die Lektüre der Schülerinnen zu einem großen Teile der Hausarbeit zufällt, so ist 
Sorge zu tragen, daß sie für diese freie Arbeit eine gute Arbeitsweise besitzen. Im 
Klassenunterrichte ist das Gelesene zusammenfassend und vertiefend zu besprechen. 
2. Alles bloße Vortragen und alles Aneignen von Leitfadenwissen ist zu vermeiden. 
Die Erkenntnisse sind aus den Schriftwerken oder charakteristischen Proben durch 
möglichste Eigentätigkeit der Schülerinnen zu gewinnen, auch durch arbeitsteiliges 
Verfahren neben der Arbeit an gemeinsamer Lektüre. Für ihr ästhetisches Urteil sollen 
die Schülerinnen sich aus der Lektüre des Wertvollsten die rechten Maßstäbe erwerben. 
3. Auch für die Sprachlehre sind Grundsätze des Verfahrens: Beschränkung auf 
das Wesentliche, Durchführung der Entwicklungslinien, Nachweis der Zusammen- 
hänge der Sprachentwicklung mit der allgemeinen Kulturentwicklung, induktives 
Gewinnen der einzelnen Erkenntnisse und Gesetze aus planmäßig ausgewähltem 
typischen Sprachstoff. Die den grammatischen Formen zugrunde liegenden psycho- 
logischen Verhältnisse sind zur Einsicht zu bringen. 
4. In Metrik und Poetik ist nicht sowohl systematische und vollständige Kenntnis der 
dichterischen Ausdrucksmittel, Versmaße, Dichtungsarten usw. anzustreben, als viel- 
mehr, daß die Schülerinnen durch die Formen in der vom Dichter beabsichtigten Weise 
bewegt werden und den inneren Zusammenhang zwischen Inhalt und Form fühlen 
und erkennen. 
5. Damit im mündlichen Darstellen der Schülerinnen die Klarheit der Anordnung 
und die Entwicklung der Gedanken und im schriftlichen Darstellen die Frische und 
Lebendigkeit gefördert werde, sind mündliches und schriftliches Darstellen tunlichst 
in Beziehung zueinander zu halten. Für die Aufsätze ist die Beschäftigung mit solcher 
Prosalektüre nutzbar zu machen, die einerseits Vorbilder in stilistisch wertvoller Dar- 
stellung bietet, andererseits geeignet ist, die durch den sonstigen Unterricht von den 
Schülerinnen gewonnenen Gedanken zu größeren Gruppen zusammenzuschließen 
und gereiftere Welt= und Lebensanschauung zu fördern. 
6. Steter Pflege bedarf auch der Vortrag (Lesen und freies Vortragen) von 
Dichtungen. Die Schülerinnen sind so anzuleiten, daß sie die Vortragsweise nach der 
Natur der Dichtung selbst zu bestimmen vermögen. 
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