Fünftes und Schlusskapitel. 2%6l
Sehn wir davon ab, dass auch eine Vernachlässigung der
Pflichten des Reiches zu Rechtsschutz und Interessenförderung,
welche die Einzelstaaten für sich und ihre Unterthanen ver-
fassungsmässig anzusprechen haben, dass auch eine Hintan-
setzung des Gleichmasses der den Einzelstaaten für das Reich
aufgelegten Pflichten, Leistungen und Lasten, den Charakter
der Rechtsverletzung anzunehmen vermögen, so wird die
Rechtsverletzung des Einzelstaates durch das Reich und seine
Organe innerhalb der bestehenden Verfassung eine doppelte
Richtung nehmen können. _
Entweder sie besteht in der Beeinträchtigung und Vorent-
haltung derjenigen Rechte, welche dem Einzelstaate in dem
Organismus des Reiches eingeräumt sind, wie der stimmbe-
rechtigten Theilnahme am Bundesrathe und der damit ver-
knüpften Rechte oder der individualisirten Rechte einzelner
Bundesstaaten in den Bundesrathsausschüssen.
Oder — und dies wird der regelmässige und wichtigste
Fall sein — die Rechtsverletzung besteht in einem Eingriffe
der Reichsgewalten in denjenigen Wirkungskreis des Einzel-
staates, welcher ihm durch die Reichsverfassung als selbstän-
dige Rechtssphäre verbürgt ist. Hier mag es sein dass ein
einfaches Reichsgesetz den verfassungsgesetzlichen Kompe-
tenzkreis des Reiches überschreitet oder dass eine Ausfüh-
rungsverordnung oder eine abhilfliche Verfügung des Bundes-
rathes oder dass eine Verordnung oder Verfügung des Kaisers
oder der Reichsbehörden gegen die Vorschriften der Reichs-
verfassung oder ausserhalb ihrer Ermächtigungen in Verfas-
sung und Gesetz, in Verordnung, Verfügung und Einrichtung
des Einzelstaates rechtswidrig eingreifen.
Zweifellos ist es, dass das was für den Bürger im Staate
schlechthin gilt, auch gilt für den Einzelstaat im Reiche: alle
Gehorsamspflichten sind nur verfassungsmäs-
sige. Und wenn der Staat den Gehorsam oder doch den
Verzicht auf thätlichen Widerstand vorerst auch gegenüber
einer rechtswidrigen Ausübung seiner Gewalten oder gegen-
über einer Ausschreitung seiner Organe fordert und fordern