sich Rußland bisher noch keinem Staate gegenüber für lange Dauer
unter Preisgabe des Systems der Absperrung gebunden hatte. Ein
Zeichen gebesserter politischer Beziehungen war es schon, daß der
Botschafter Graf Schuwalow auf dem Diplomatenmahle zu Kai-
sers Geburtstag, einen Tag nach dem Empfange des Fürsten Bis-
marck im Königlichen Schlosse zu Berlin, abweichend von dem
feststehenden Brauche und offenbar mit Zustimmung des Kaisers
Alerander III., einen Trinkspruch auf den Grafen Caprivi aus-
brachte. Aber diese Vorgänge dienten in der Agitation auf dem
Lande nur dazu, um den Männern des neuen Kurses „Kosaken-
furcht“ nachzusagen.
Die Beratungen im Reichstag endigten mit einem beträcht-
lichen Erfolg, es stimmten mit Ja 200, mit Nein 146 Abge-
ordnete. Die Mehrheit setzte sich zusammen aus allen Stimmen
der freisinnigen Vereinigung, der freisinnigen Volkspartei, der süd-
deutschen Volkspartei, der Sozialdemokraten und der olen, ferner
aus der großen Mehrheit der Nationalliberalen, 10 Mitgliedern
der deutschen Reichspartei, 4 Konservativen (den Prinzen zu Hohen-
lohe-Oehringen und Hohenlohe-Schillingsfürst, Graf Dönhoff-Fried-
richstein, Uhden) und der Mehrheit des Zentrums. Die Minderheit
bestand aus sämtlichen Antisemiten, den Konservativen mit den
genannten Ausnahmen, dem größeren Teile der Reichspartei, dem
kleineren Teil des Zentrums und 16 Nationalliberalen. Die Mehr-
heit reichte also von der äußersten Linken bis in die konservative
Rechte hinein, während sich das Bereich der Minderheit von der
äußersten Rechten bis in die Mitte erstreckte.
Fest in der vollen Gunsi des Kaisers stehend, siegreich im
Parlament — was konnte die Stellung des Kanzlers bedrohen?
Dennoch — bei näherem Zusehen enthielt der parlamentarische
Boden nur dürftige Keime für künftige Frucht. Die Parteien,
die sich die staatserhaltenden nannten und einer im allgemeinen
konservativen Richtung der inneren Politik folgten, waren gespalten
und boten einem Staatsmann keinen festen Halt, der sich zwar
selbst als konservativ betrachtete, aber warme Sympathien nur auf
der linken Seite des Reichstags genoß. Der rein äußerliche Ver-
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