waren im Reichstag überall Scheidewände gezogen. Ließ sich doch
einmal eine persönliche Berührung in irgendeiner besonderen Sache
nicht umgehen, so vollzog sie sich möglichst in einer verschwiegenen
Ecke. Ein Gespräch über die Haltung der Partei in großen poli-
tischen Fragen war so gut wie ausgeschlossen. Die praktische Er-
fahrung und Tüchtigkelt von Arbeitervertretern blieb für die Regie-
rung fast ungenutzt, und wie hat sie sich in gemeinschaftlicher
Arbeit mit der Regierung bewährt seit dem 4. August 19141
Von allen Lehren, die uns der Weltkrieg hinterläßt, ist dies
die wichtigste: Stärkung der gesamten Kraft des Volkes nach außen,
keine Verhetzung von Volksteilen gegeneinander, sondern Achtung
jeder ehrlichen Gesinnung im inneren Meinungsstreit. „Nachgiebig-
keit bei großem Willen“ nennt's der Genius der Einigkeit in des
Epimenides Erwachen.
Keines der am Weltkrieg unmittelbar beteiligten Völker hat
tiefer als das deutsche erfahren, was es bedeutet, wenn alle Volks-
teile mit den staatlichen Gewalten einig sind in der Stunde vater-
ländischer Not, einig im Willen der Abwehr, einig im ziele der
Freiheit der Nation von äußerem Zwange. Wer mag da jetzt und
später beim Aufbau alles dessen, was der Krieg zerstört hat, noch
an Umsturz von oben denken? Oder sollte wieder, wie nach den
Befreiungskriegen vor hundert Jahren, eine Periode der Reaktion
möglich sein? Alle Voraussetzungen fehlen. Damals hatte der
Deutsche noch viele Vaterländer, eine politisch geeinigte Nation gab
es nicht. Die Geschicke der europäischen Festlandsvölker und ihre
Beziehungen zueinander wurden ausschließlich nach den Bedürf-
nissen der Oynastien und ihrer Kabinette bestimmt.
Der Gegensatz zwischen Monarchie und Demokratie hat seine
Schroffheit verloren und wird sich weiter abschwächen, wenn das
Parlament durch einheitlicheres Auftreten der Parteien und durch
stärkere Entwicklung des politischen Gemeinsinns ein anderes Aus-
sehen und Ansehen erlangt, als die Reichstage seit einem Menschen-
alter besaßen. Plutarch erzählt von einem König von Sparta,
dem seine Gemahlin nach Einsetzung der Ephoren als Wächter und
Helfer für die staatliche Ordnung vorwarf, er werde ihrem Sohne
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