Franz W. Jerusalem, Zentralisation und Dezentralisation der Verwaltung. 195
seeische Gebiete gelten, wo Klima, Bevölkerung und Lebensverhältnisse ganz andere Aufgaben an
die Verwaltung stellen als im Mutterland. Im Gegensatz dazu kann für bestimmte Verwaltungs-
zweige eine mehr oder weniger straffe Zentralisation erforderlich sein; z. B. ist im Interesse der
Rechtseinheit im modernen Staat ein oberster Gerichtshof, dessen Entscheidung gegen die Urteils-
sprüche der Territorialgerichte angerufen werden kann, durchaus notwendig. Einer noch strafferen
Zentralisation bedarf im Interesse der grösstmögliohen Schlagfertigkeit der Streitkräfte das Militär-
n.
Das Problem der richtigen Verteilung der Verwaltung an die innerhalb des Staates in Betracht
kommenden Faktoren taucht in der öffentlichen Diskussion regelmässig dann auf, wenn veränderte
Verhältnisse die bestehende Verwaltungsorganisation in dem Punkte der Verteilung der Verwaltungs-
geschäfte unpraktisch oder gar schädlich erscheinen lassen. Das zeigt sich heute in Preussen, wo
in den letzten Jahrzehnten sich eine völlige Umgestaltung in wirtschaftlicher Beziehung vollzogen
hat, die sich durch den Übergang vom Agrar- zum Industriestaat am ehesten kennzeichnen lässt,
der seinerseits vor allem das rapide Anwachsen der städtischen Bevölkerung gegenüber dem Stag-
nieren der ländlichen Bevölkerungsziffer zur unmittelbaren Folge hatte. Dem gegenüber stammt die
beutige Verwaltungsorganisation noch aus einer Zeit, wo sich erst die Anfänge dieser Entwicklung
zeigten und wo der preussische Staat noch ein vorwiegend agrarischer Staat war, dessen städtisches
Element an modernen Massstäben gemessen noch kleinstädtischen Charakter trug. Die Mängel,
die sich aus diesem Gegensatz des Charakters der allgemeinen Lebensverhältnisse und der Ver-
waltungsorganisation mit Naturnotwendigkeit ergeben mussten, vor allem auch was die Frage
der richtigen Verteilung der Verwaltungsgeschäfte betrifft, hatte den Königlichen Erlass vom
7. Juni 1909 zur Folge; durch diesen wurde eine Immediatkommission berufen, welche zu prüfen
hat, „welcher Änderungen der gesetzlichen und Verwaltungsvorschriften im Sinne der Verein-
fachungundderDezentralisation es bedürfen wird, um die Geschäftsformen, den Behörden-
aufbau, die Verteilung der Verwaltungsgeschäfte auf die Behörden und die Ordnung des Rechts-
mittelwesens und der Instanzenzüge in der gesamten inneren Verwaltungden Anforderungen
der heutigen Entwicklung des öffentlichen Lebens anzupassen“.
Der Gegensatz von Zentralisation und Dezentralisation der Verwaltung bedeutet aber nicht
allein ein verwaltungstechnisches Problem. Zentralisation der Verwaltung bedeutet zugleich ab-
solutistische Regierungsform, Dezentralisation bedeutet Herrschaft der Demokratie oder einer
aristokratischen Auslese, eventuell Sprengung der staatlichen Organisation durch partikularistische
Tendenzen, die in einzelnen Landesteilen dem staatlichen Einheitsgedanken entgegenstehen.
Absolutistische Regierungsform ohne Zentralisation der Verwaltung ist logisch unmöglich, in gleicher
Weise ist wahre demokratische oder aristokratische Regierungsform ohne Dezentralisation der Ver-
waltung nicht denkbar. Der Kampf des englischen Königtums gegen die demokratischen und aristo-
kratischen Tendenzen, dessen Ziel die Aufrichtung der unumschränkten Monarchie sein sollte, war
zugleich ein Kampf des Prinzips der Zentralisation der Verwaltung gegen den Grundsatz der De-
zentralisation. Die Niederlage des Königtums in diesem Kampfe bedeutete zugleich eine Nieder-
lage des Zentralisationsgedankens. Anderseits war der Sieg des französischen Königtums über die
feudalen und autonomen Gewalten zugleich ein Sieg des Prinzips der Zentralisation der Verwaltung,
dessen sichtbare Manifestation die Einsetzung der Intendanten wurde.
Der Gegensatz von Zentralisation und Dezentralisation der Verwaltung bedeutet also zugleich
den Gegensatz zweier Parteirichtungen, von denen die eine die absolutistische Regierungsform,
die andere, je nach der besonderen Ausgestaltung, die die Dezentralisation erfahren soll, die demo-
kratische oder die aristokratische Regierungsform zum Inhalt ihres Parteiprogramms hat. In der
öffentlichen Diskussion wird es nicht immer deutlich, ob es sich lediglich um Erörterung verwaltungs-
technischer Fragen oder politischer Forderungen handelt. Besonders in Zeiten, wo aus verwaltungs-
technischen Gründen eine anderweitige Verteilung der Verwaltungsgeschäfte notwendig wird, ist
es das naturgemässe Bestreben politischer Parteien, bisher unerfüllt gebliebene Forderungen bei
dieser Gelegenheit durchzusetzen und in die öffentliche Diskussion, deren Gegenstand zunächst
lediglich die Verteilung der Verwaltungsgeschäfte nach der verwaltungstechnischen Seite war,
politische Forderungen hineinzuwerfen, deren Erfüllung nicht notwendig eine bessere und zweck-
mässigere Verteilung der Verwaltungsgeschäfte, vielmehr in erster Linie eine Verschiebung des be-
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